„Pflicht Teil 1 erfüllt, Luft nach oben vorhanden“ MT Melsungen -- Michael Allendorf, Ex-Nationalapieler, Europameister, Vize-Weltmeister, heute Sportvorstand des Handball-Bundesligisten MT Melsungen
KENNERBLICK – Die WM-KOLUMNE von MICHAEL ALLENDORF (MT Melsungen)

„Pflicht Teil 1 erfüllt, Luft nach oben vorhanden“

  • Michael Allendorf
In der Analyse zwischen Vor- und Hauptrunde geht es um die drei Gruppenspiele des DHB-Teams und die Aussichten für die kommenden Aufgaben auf dem Weg in Viertelfinale.
Liebe Leserinnen und Leser,

nach Beendigung der WM-Vorrunde ziehe ich ein gemischtes Zwischenfazit von den ersten drei Partien der DHB-Auswahl. Ja, die Truppe von Bundestrainer Alfred Gislason hat 6:0 Punkte geholt und geht mit der maximalen Ausbeute von vier Zählern in die Hauptrunde. Also: ‚Mission Accomplished‘. Dabei hat sie auch Fähigkeiten gezeigt – oder zumindest angedeutet –, die optimistisch stimmen. Dazu gleich mehr. Aber es hat noch längst nicht alles funktioniert im deutschen Spiel. Und bei allem Respekt vor drei soliden Gegnern – die deutsche Gruppe hatte vergleichsweise wenig Leistungsgefälle auf gutem, europäischem Niveau, wenn auch nicht auf Weltklasse-Level – hätte sicher nicht nur ich erwartet, dass sich unser Team in allen Begegnungen weniger schwertut.

Nachdem sich die Mannschaft im lange sehr ausgeglichenen und hart umkämpften Auftaktspiel letztlich doch noch absetzen konnte und einen – wenn auch um ein paar Tore zu hoch ausgefallenen – 35:28-Sieg schaffte, hatte ich vermutet, dass die Schlussphase dieses Spiels eine Art Brustlöser sein würde. Der schleppende Auftakt inklusive diverser Rückstände, die erkennbare Nervosität – all das hatte man auf den typischen Charakter von Auftaktspielen zurückführen können. Auf einen gewissen Druck, den das Team als Gruppenfavorit verspürt, den es aber ablegen würde. Und es war ja – dank unseres sehr starken Torhüters Andreas Wolff und der Unbeirrtheit von Renars Uscins – nach 60 Minuten doch noch ein Sieg aus der Abteilung ‚Business as Usual‘. Dass es dann aber gegen die ersatzgeschwächten Schweizer eine Neuauflage gab, eine weitere Zitterpartie in der dem DHB-Team erneut lange Zeit eine nicht einkalkulierte Niederlage drohte, war bei aller Freude über das nächste Happy End doch etwas irritierend.

Die Schweiz – ohne ihren verletzten Topspieler Manuel Zehnder – hatte uns mit einem beherzten, aber handballerisch eher durchschaubaren Auftritt, gestützt auf eine gute Torhüterleistung, ernste Probleme bereitet. Diese mussten und konnten wir weniger spielerisch als vielmehr über den Kampf und dank des einmal mehr überragenden Andy Wolff lösen. Das 31:29 war verdient, aber wenig souverän herausgespielt. Von wegen Brustlöser … Was sehr erfreulich war: Die persönliche Leistungssteigerung von Julian Köster, der bis dahin körperlich nicht auf der Höhe wirkte und vor allem im Angriff wenig Druck und Torgefahr aufbauen konnte, dann aber auch dank der tollen Assistenz von Spielmacher Juri Knorr plötzlich doch noch zu einem entscheidenden Faktor wurde und eine torreiche Schlussphase hinlegte. Das sprach und spricht sehr für den Jungen!

Nach dem gebuchten Hauptrundenticket war das abschließende Match gegen die abwehrstarken Tschechen dann quasi Teil III in der Serie schwerer Abende hausgemachter Art. Wieder kein gelungener Start, wieder ein Rückstand, wieder Verunsicherung trotz guter Anlagen. Aber der unkonzentrierte, unpräzise und somit verschwenderische Umgang mit guten Torchancen stand uns – neben Abstimmungsproblemen in der Abwehr – auch gegen diesen Gegner im Weg.

Wie schon in den Spielen zuvor gelang es den Jungs dann erst in der zweiten Halbzeit, ihren Rhythmus und Spielfluss zu finden, mehr Schwung in die Aktionen zu bekommen, vor allem dann, wenn nach gelungenen Abwehrphasen der Ball schnell vors tschechische Tor transportiert wurde. Am Ende stand ein doch relativ klarer 29:22-Sieg, der wie schon der Erfolg gegen die Polen nicht ganz verrät, wie eng es lange Zeit war, wieviel Ballast das Team streckenweise mit sich herumschleppte, ehe es besser klappte. Einmal mehr mussten die entscheidenden Impulse und Aktionen vom deutschen Torwart ausgehen – diesmal von David Späth, der gegen Tschechien überragend hielt. Er und Andy Wolff bilden ein Top-Gespann, auf das Verlass ist – einer der großen Pluspunkte in der Vorrundenbilanz.     

Trotz so manch kritischer Betrachtung: Die DHB-Auswahl hat sich am Ende keine Blöße gegeben, hat sich schadlos gehalten und ihr Ziel erreicht. Jungs wie der schnelle und spielintelligente Nils Lichtlein als Taktgeber in der Mitte oder auch Luca Witzke als Allrounder im Rückraum konnten neben oder anstelle von Juri Knorr Akzente setzen. Renars Uscins, durch den Ausfall von Franz Semper nahezu auf sich gestellt im rechten Rückraum, beweist auch bei der WM, dass er sich selbst aus kritischen Phasen eines Spiels herausholen – oder besser: herauswerfen kann. Dennoch wäre hier eine Alternative als Entlastung wichtig. Vielleicht kann Nils Lichtlein ja diesen Part übernehmen.

Ansonsten ist die Tiefe im Kader ein Plus. Die Mannschaft kann ‚Crunchtime‘ und bleibt mittlerweile auch nach einem stottrigen Start und Rückständen ziemlich ruhig, ich möchte sagen: sie bleibt bei sich. Der Teamspirit rund um Kapitän Johannes Golla ist großartig, das spürt man auch als Außenstehender. Die Jungs fühlen sich wohl in dieser Gemeinschaft. In Sachen Kampfgeist ist die Truppe auch voll da.

Mit diesen Zutaten und einer zu erwartenden Leistungssteigerung – Potenzial nach oben sehe ich allemal, in der Gruppe, aber auch individuell, beispielsweise mit Blick auf Youngster Marko Grgic – wird Gislasons Team am Ende der Hauptrunde das Viertelfinale erreichen, ganz sicher. Zumal nach dem Spiel der Spiele in dieser Gruppe – das kommende Match gegen Gastgeber Dänemark – zwei Gegner warten, die dem Silbermedaillengewinner von Paris bei allem nötigen Respekt kein Bein stellen dürften: Italien und Tunesien.

Zunächst aber wartet am Dienstag das große Duell gegen den WM-Topfavoriten, die Neuauflage des Olympia-Finales von Paris: Haben wir gegen den Titelverteidiger und Olympiasieger diesmal eine Chance? In der zuletzt gezeigten Verfassung ehrlicherweise – noch – nicht. So realistisch muss man sein. Eine Außenseiterchance – vielleicht. Aber im Normallfall qualifizieren wir uns als Gruppenzweiter fürs Viertelfinale. Wenn wir dann bei diesem Turnier noch einmal auf die Dänen treffen, steigen die Aussichten auf eine Überraschung meiner Meinung nach durchaus. Doch das ist – zunächst – noch etwas Zukunftsmusik.

Eine Anmerkung noch: Wer aufgrund der viel diskutierten, hohen Belastung der Topstars den WM-Modus hinterfragt, sprich: Wer geneigt ist, den Sinn der großen Teilnehmerzahl und vor allem Partien unter Beteiligung der USA, Guinea und einiger anderer Exoten infrage zu stellen, muss daran denken, dass es wichtig ist, dass Handball eine wirklich globale Sportart wird. Dass er weltweite Aufmerksamkeit braucht, um expandieren oder auch nur – langfristig betrachtet – weiter im Konzert der großen Teamsportarten ‚mitmischen‘ zu können. Unter diesem Aspekt sind dann eben auch Begegnungen mit diesen Teams und entsprechend drastische Resultate zu sehen.

Ich freue mich auf den weiteren WM-Verlauf und meinen nächsten Auftritt hier, kommendes Wochenende – mit Blick aufs Viertelfinale. In einer der Hauptrollen dann sicher: die deutsche Mannschaft.

In diesem Sinne: Viele Grüße und viel Spaß weiterhin,

Euer Michael Allendorf!

Michael Allendorf Handball

Zur Person: Michael Allendorf

Michael Allendorf, Jahrgang 1986, spielte in der Bundesliga für die SG Wallau-Massenheim, die HSG Wetzlar sowie für MT Melsungen. Der Linksaußen kam auf insgesamt 493 Einsätze und erzielte 1.595 Tore. Für die A-Nationalmannschaft spielte er 17mal und warf 26 Tore. Seine größten Erfolge feierte der gebürtige Heppenheimer mit der A-Jugend Wallau-Massenheims (Deutscher Meister 2005) sowie als Junioren-Nationalspieler (Europameister 2006, Vize-Weltmeister 2007). In der letzten Saison seiner aktiven Laufbahn (2021/2022) schnupperte Allendorf bereits Manager-Luft als Assistent der Geschäftsleitung. Danach wechselte er komplett auf die Manager-Seite. Inzwischen verantwortet er als Sport-Vorstand der MT den Bundesligabereich der Nordhessen.   

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