„BRUST RAUS, NASE NICHT ZU HOCH“ MT Melsungen -- Ex-Nationalapieler, Europameister, Vize-Weltmeister, heute Sportvorstand des Handball-Bundesligisten MT Melsungen
KENNERBLICK – Die WM-KOLUMNE von MICHAEL ALLENDORF (MT Melsungen)

„BRUST RAUS, NASE NICHT ZU HOCH“

  • Michael Allendorf
IN DER ANALYSE VOR DEM START DER WELTMEISTERSCHAFT IN DREI LÄNDERN GEHT ES UM DIE AMBITIONEN DER DHB-AUSWAHL, DAS ZU ERWARTETNDE NIVEAU DES TUNIERS UND DIE VERLETZUNGSGEFAHR AUFGRUND DER IMMENSEN BELASTUNG, BESONDERS FÜR DIE TOPSTARS DER SZENE.
Liebe Leserinnen und Leser,

die WM in Kroatien, Dänemark und Kroaten geht in Kürze los. Das Turnier ist angesichts 32 teilnehmender Nationen ein regelrechtes Mammut-Event, auch aufgrund der langen Wege. Was das vor allem für die Spieler, die kaum eine Verschnaufpause während der Feiertage und des Jahreswechsels hatten, bedeutet – dazu gleich mehr.

Zunächst einmal freue ich mich, Ihnen und Euch nach den Olympischen Spielen von Paris erneut ein paar Beobachtungen, Insights und Analysen an die Hand geben zu können im Rahmen dieser Kolumnenserie. Selbstverständlich liegt mein Hauptaugenmerk auf der deutschen Mannschaft, die in Paris Olympia-Silber geholt hat und nicht zuletzt deswegen natürlich zum Kreis der Mitfavoriten auf eine WM-Medaille zählt. 

Womit wir bei der Erwartungshaltung an das DHB-Team sind: Die Spieler formulieren absolut zurecht (Selbst-)Ansprüche. Alfred Gislason hat eine wirklich gute und spannende Mannschaft, die zwar noch immer entwicklungsfähig und nicht auf dem Zenit ist, seit Paris aber Spiel für Spiel reifer wurde und sich immer besser kennt. Wir dürfen von ihr durchaus etwas erwarten. Ich mag das Selbstbewusstsein der Jungs. Ich rate ihnen, was man uns in Melsungen als Überraschungstabellenführer der Bundesliga mit Blick auf die Rückrunde angeraten hat: „Brust raus, Nase nicht zu hoch.“ Das ist ein gutes Motto.

Klar: Topfavorit ist und bleibt Olympiasieger und Titelverteidiger Dänemark, dahinter muss man wie immer auch die Franzosen, aktueller Europameister, nennen. Aber die DHB-Auswahl muss sich angesichts ihres Potentials keineswegs verstecken. Sie verfügt über einen hochkarätigen Kern mit Andreas Wolff, Johannes Golla, Julian Köster, Juri Knorr und Renars Uscins – und zudem über viele Variationsmöglichkeiten. Personell wie taktisch. Selbst die kurzfristigen Ausfälle von Jannik Kohlbacher und Sebastian Heymann, die dem Bundestrainer primär defensiv ein, zwei Optionen kosten, dürfte sie letztlich doch gut verkraften. Dass die beiden fehlen ist schade – aber zu kompensieren. Kohlbachers Ausfall ist eine Chance für Justus Fischer, sich nach der sehr starken Bundesliga-Vorrunde auch im DHB-Dress noch mehr in den Vordergrund zu spielen. Vorne am Kreis, aber auch defensiv. Und Heymanns Part können sich Shootingstar Marko Grgic im Angriff und der nachnominierte Lukas Stutzke mit seinen Abwehrqualitäten teilen. Das wird passen, da mache ich mir wenig Sorgen.

Insofern sehe ich die deutsche Mannschaft in ihrer Vorrundengruppe auch in der Favoritenrolle. Auftaktgegner Polen, die Schweiz und Tschechien sind fraglos nicht zu unterschätzen – aber ich rechne mit Platz eins für das DHB-Team. Danach wird sich zeigen, welche Konstellation sich in der Hauptrunde ergibt und welche Eigendynamiken einsetzen. Das bleibt noch abzuwarten.   

Was ich aber bereits vorhersage: Insgesamt sollte man qualitativ nicht zu viel erwarten von diesem WM-Turnier. Warum nicht? Weil die Protagonisten, die Topstars und Leistungsträger ihrer Teams, gezeichnet sind von der immensen Belastung, der sie – ich erwähnte es eingangs – ausgesetzt sind. Mental, wie physisch. Es ist kaum vorstellbar, dass die gang großen Spieler, die solch ein Turnier ja prägen, derzeit ihr volles Leistungsvermögen abrufen können. Nehmen wir als Beispiel nur mal Matthias Gidsel von den Füchsen Berlin, den Welthandballer aus Dänemark. Nach der letzten Saison hatte er quasi keine Pause, ging sofort in die Olympiavorbereitung, spielte in Paris bis zum Schluss, kehrte dann nach wenigen Tagen wieder zurück nach Berlin in die Saisonvorbereitung und spielt seit dem Spätsommer in der besten und härtesten Liga der Welt, in der Champions League und lange Zeit auch noch im Pokal.

Diese Belastung ist fast schon übermenschlich. Es gäbe noch so viele andere Topspieler aufzuzählen, denen es ähnlich geht – vor allem jenen, die bei Olympia dabei waren und aktuell mit ihren Vereinsmannschaften auch Champions League spielen. Sei es in Magdeburg, Berlin, Kielce, Veszprem oder Paris.

Ich kann darüber inzwischen aus eigener Erfahrung berichten. Um das klarzustellen: Ohne mich zu beschweren! Die MT Melsungen hat jahrelang danach gestrebt, mal wieder international dabei zu sein. Nun sind wir es – und darüber einfach nur glücklich. Doch natürlich haben sich Rhythmus und Belastung durch die Teilnahme an der European League auch für uns verändert – und das wiederum sensibilisiert uns für die riesigen Anforderungen, denen Mannschaften wie Magdeburg, Kiel, Flensburg oder Berlin ausgesetzt sind. Seit vielen Jahren. Davor habe ich mittlerweile noch mehr Respekt als zuvor ohnehin schon. Wenn diese Vereine öffentlich den Finger in die Wunde legen und darauf hinweisen, dass man die Gesundheit ihrer Spieler gefährdet und die inflationäre Zahl an WM- und EM-Turnieren in den eigentlich so dringend benötigten Winterpausen auf dem Rücken der Spieler ausgetragen wird, habe ich dafür absolutes Verständnis.

Noch einmal: Ich beschwere mich nicht durch die MT-Brille. Wir sind froh und auch etwas demütig, uns endlich mal wieder auf internationaler Bühne präsentieren zu können. Aber deswegen darf man ja die generelle Problematik nicht übersehen. Zumal: Es fährt ja auch niemand zu einer WM und spielt dann vor Ort mit angezogener Handbremse, um sich zu schonen. Nein, alle Spieler dieser WM werden geben, was sie haben. 

Wir alle hoffen natürlich auf eine WM, die Werbung für unseren Sport ist. Für den Handball. Wir alle wünschen unseren Spielern, dass sie für so ein Event nominiert werden – Melsungen wird vermutlich durch sieben Spieler dort vertreten sein –, aber längst zittern und bangen wir doch darum, ob sie halbwegs gesund und unversehrt wieder zu uns in die Vereine zurückkehren. Denn natürlich wird auch diese WM den weiteren Ligabetrieb beeinflussen. Wer hat in den Wochen und Monaten der Wahrheit welches Personal zur Verfügung – und in welchem Zustand?

Womit ich bei der nächsten Prophezeiung bin, für die man aber kein Prophet sein muss – es passiert ja leider ohne Unterlass vor unseren Augen, beinahe täglich ereilen uns schlechte Nachrichten: Mit der Be- und Überlastung nimmt auch unweigerlich die Verletzungsgefahr zu. In einer meiner letzten Olympia-Kolumnen im Sommer 2024 habe ich zunehmende Verletzungszahlen vorhergesagt – und leider Recht behalten. Man denke nur an den SC Magdeburg, an die Schweden Felix Claar und Oskar Bergendahl. Oder an ihren Landsmann bei den Berliner Füchsen, Max Dari, der nun ebenfalls ausfällt. Oder an Manuel Zehnder, der sich kurz vor der WM schwer am Knie verletzte und nun nicht nur der Schweiz, sondern auch Magdeburg die komplette Rückrunde fehlen wird. Die Liste ist so lang wie prominent – nahezu jede Nation hat Ausfälle zu beklagen und es werden auch bei und vor allem nach der WM weitere hinzukommen. Es fehlt einfach an Regenerationszeit. Umso fester drücke ich allen Spielern bei dieser WM die Daumen, dass sie heil wieder zurückkehren mögen. Auch wenn dies unwahrscheinlich ist.

Um abschließend noch einmal die Kurve zur sportlichen Betrachtung zu kriegen: Aus den hier geschilderten Gründen halte ich es für durchaus denkbar, dass sich bei dieser WM ein Überraschungsteam herausbildet, mit dem man aktuell noch nicht rechnet, wenn es um das Halbfinale und somit um die Medaillen geht. Ein Team, in dem weniger oder keine bei den Topadressen Europas beschäftigte Superstars spielen, das aber genau deshalb frischer und unverbrauchter ist und als funktionierendes Kollektiv eine positive Welle trifft.

Wo das deutsche Team sich während des Turnierverlaufs einordnen lässt, werden wir sehen. Ich freue mich auf die drei Vorrundenspiele, beginnend mit dem Auftakt gegen Polen am Mittwoch – und auf ein erstes Zwischenfazit zum Ende der Vorrunde, das hoffentlich auch Ausblick auf ein aus deutscher Sicht noch langes, positives Turnier wird.

In diesem Sinne: Viele Grüße und viel Spaß bei der WM,

Euer Michael Allendorf!

Michael Allendorf Handball

Zur Person: Michael Allendorf

Michael Allendorf, Jahrgang 1986, spielte in der Bundesliga für die SG Wallau-Massenheim, die HSG Wetzlar sowie für MT Melsungen. Der Linksaußen kam auf insgesamt 493 Einsätze und erzielte 1.595 Tore. Für die A-Nationalmannschaft spielte er 17mal und warf 26 Tore. Seine größten Erfolge feierte der gebürtige Heppenheimer mit der A-Jugend Wallau-Massenheims (Deutscher Meister 2005) sowie als Junioren-Nationalspieler (Europameister 2006, Vize-Weltmeister 2007). In der letzten Saison seiner aktiven Laufbahn (2021/2022) schnupperte Allendorf bereits Manager-Luft als Assistent der Geschäftsleitung. Danach wechselte er komplett auf die Manager-Seite. Inzwischen verantwortet er als Sport-Vorstand der MT den Bundesligabereich der Nordhessen.

Kontakt

Copyright © 2017 netzathleten