Internationale Ernährungspyramiden
- Marco Heibel
Seit Anfang der 1990er Jahre sagt sie uns, welche Lebensmittel gut sind und welche seltener auf dem Speiseplan stehen sollten: die Ernährungspyramide. Eingeführt vom United States Department of Agriculture (USDA), dem Landwirtschaftsministerium der Vereinigten Staaten, wurde das Modell der Ernährungspyramide bald auch international aufgenommen. Auch in vielen europäischen und asiatischen Ländern findet man solche Modelle. Das Interessante dabei: Die Lebensmittel-Empfehlungen in diesen Pyramiden unterscheiden sich teilweise deutlich. Wie kann das sein? Schließlich kann für einen Deutschen kaum schädlich sein, was für einen Japaner gesund sein soll.
Umstrittenes Modell
Das Problem beginnt bereits bei der Wahl des Modells. Die klassische Ernährungspyramide sieht wie folgt aus: Die am breiten Sockel platzierten Lebensmittel – beim USDA-Modell von 1992 sind das Brot, Nudeln, Kartoffeln und Cerealien – suggerieren dem Verbraucher, besonders gesund zu sein. Je weiter sich die Pyramide zuspitzt, desto weniger empfehlenswert sind die Lebensmittel bzw. Nährstoffe. An zweiter bzw. dritter Stelle der Empfehlungen der USDA-Pyramide rangierten Obst und Gemüse, gefolgt von Milchprodukten und Fisch/Fleisch. Die Spitze bildeten pauschal Zucker und Fett. Sie sind demnach besonders ungesund.
Der Knackpunkt ist jedoch, dass diese Pyramiden eine starke Hierarchisierung vornehmen. Manche Lebensmittel können so als besonders gesund erscheinen, obwohl sie ab einer gewissen Menge (Stichwort: Die Dosis macht das Gift) ebenfalls die Gesundheit schädigen und zu Zivilisationskrankheiten führen können. Andere Lebensmittel werden dagegen auf den ersten Blick als „böse“ stigmatisiert, obwohl sie für den menschlichen Organismus in einer gewissen Menge (lebens)wichtig sind.
Beispiel USA: Zeiten ändern sich
Nicht von ungefähr hat das USDA im Jahr 2004 eine neue Ernährungspyramide herausgebracht, in der nicht mehr von unten nach oben hierarchisiert wurde, sondern in der Horizontalen durch unterschiedlich proportionierte Fächer. Und siehe da: In diesem Modell war der Stellenwert der Kohlenhydrate ein geringerer als noch zwölf Jahre zuvor, zugleich wurden Öle und Fette nicht mehr per se „verteufelt“, sondern als eine von sechs Säulen der täglichen Ernährung (neben langkettigen Kohlenhydraten, Gemüse, Obst, Milchprodukten und Fisch/Fleisch) aufgeführt.
Zugleich begab sich das USDA mit dem neuen Modell aus der Schusslinie – und blieb dennoch angreifbar: Absolute Portionsangaben fehlten nämlich nun, man blieb bewusst vage und ließ den Verbraucher die Proportion der Fächer interpretieren.
Der Grund für den Sinneswandel waren neue Erkenntnisse über den Zusammenhang von Ernährungsgewohnheiten und Krankheiten. Anders ausgedrückt: Wer sklavisch dem alten Modell vertraut hatte – welches immerhin von einer staatlichen Organisation herausgegeben wurde –, hatte sich über Jahre unausgewogen ernährt.
Übrigens: Auch die 2004er Ernährungspyramide ist mittlerweile wieder „out“. Abgelöst wurde sie 2011 von „MyPlate“ (s.u.), einem Modell, das als Kuchendiagramm daherkommt und nur noch pauschal in die Lebensmittelgruppen „Fruits“ (Obst), „Vegetables“ (Gemüse), „Grains“ (Körner), „Proteins“ (Eiweiß) und „Dairy“ (Milchprodukte) unterteilt. Eine Gewichtung ist kaum noch auszumachen, und zu den Details – sprich: welche Milchprodukte oder Eiweiße denn nun zu empfehlen sind – übt sich das Ministerium in Schweigen. Weiterhin kritisieren US-Wissenschaftler, dass selbst diese „aktuelle“ Form nicht den neuesten Erkenntnissen entspreche und zudem von der Lebensmittelindustrie beeinflusst sei.
Harvard vs. USA
Als Gegenentwurf hat die weltbekannte Universität von Harvard mit der „Heathy Eating Plate“ ein Modell präsentiert, das optisch stark an „MyPlate“ erinnert, aber auf Details eingeht, binnendifferenziert und zugleich den bei MyPlate fehlenden, essenziellen Faktor Trinkwasser berücksichtigt (s.u.).
In Europa: Viele Meinungen, viele Pyramiden
Hierzulande hat die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE), ein eingetragener gemeinnütziger Verein, 1992 ebenfalls eine Ernährungspyramide publiziert, welche stark an das USDA-Modell erinnerte. Ebenso wie in den USA, war auch diese durchaus streitbar und wurde 2005 durch eine dreidimensionale Pyramide ersetzt, welche mehr Abstufungen vornimmt. Diese empfiehlt 30% Kohlenhydrate, 26% Gemüse, 18% Milchprodukte, 17% Obst, 7% Tierische Proteine, 2% Öle und Fette. Unumstritten ist diese Empfehlung allerdings ebenfalls nicht. Gleiches gilt für die „5-Protionen Gemüse bzw. Obst am Tag“-Kampagne der DGE: Studien konnten bislang keine erhöhte Schutzwirkung gegen Krebs und andere Erkrankungen feststellen, wenn man dieser Empfehlung folgt.
In der Schweiz kommt die Empfehlung von der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung (SGE). Auch die SGE bleibt betont schwammig (Eiweiße: „Täglich genügend“, Pflanzliche Fette: „Täglich mit Maß“). Alles in allem ist das Modell dem der DGE aber nicht unähnlich. Interessant ist allerdings, dass Fisch/Fleisch und Milchprodukte auf einer Stufe rangieren.
Bei unseren österreichischen Nachbarn, wo die Ernährungspyramide vom Gesundheitsministerium stammt, werden Pflanzenfette auf einer Stufe mit Milchprodukten gehandelt und als gesünder angesiedelt als tierische Protein- und Fettquellen.
Sonderfall: Japanische Ernährungspyramide
Die „interessanteste“ Idee von einer gesunden Ernährung haben die Japaner. Nicht nur, dass ihre Ernährungspyramide auf dem Kopf steht. Vor allem fällt auf, dass sie Obst und Milchprodukte an der Spitze einordnen. Im Klartext wird in Japan also vom Verzehr dieser Speisen abgeraten. Als gut werden Wasser, Reis und Gemüse bewertet.
Widersprüche, wohin man schaut
Quintessenz: Wer über den nationalen Tellerrand blickt, erkennt viele Ungereimtheiten bei den Ernährungsempfehlungen. Dass diese teilweise von staatlichen und teilweise von nicht-staatlichen Organisationen herausgegeben werden, ändert daran wenig. Besonders angreifbar sind sicherlich die Modelle der USA (stark vereinfacht, inhaltlich vage) und Japans. Unabhängig davon, ob diese Ernährungspyramiden oder -teller nun von der Lebensmittelindustrie „mitentworfen“ wurden, haben alle Länder ein gemeinsames Problem: Bis heute gibt es keine unabhängige Erkenntnis, was denn nun die „richtige“ Ernährung ist. Studien und Gegenstudien gibt es wie Sand am Meer. Sie sind – wie so vieles – Auslegungssache. Problematisch ist nur, dass irgendjemand die Entscheidung trifft, welche Ernährungsempfehlung man der Bevölkerung gibt. Ob diese aber der Gesundheit nützt oder schadet, kann man immer erst im Nachhinein beantworten.