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WM 2014: Das alles ist Brasilien
- Judith Hallwachs
„Hier hat die Natur in einer einmaligen Laune von Verschwendung alles auf einen Raum gedrückt, was sie sonst auf mehrere Länder verteilt“, wie schon Literat Stefan Zweig vor 70 Jahren in seinem Buch „Brasilien, ein Land der Zukunft“ feststellte.
In der Tat, das fünftgrößte Land der Erde, in seiner Fläche fast 24 Mal so groß wie Deutschland, hat mehr zu bieten als schöne Strände, Samba und Karneval. Ganze 8000 Kilometer Küste, der größte zusammenhängende Regenwald der Erde und den wasserreichsten Strom, den Amazonas: Eine unglaubliche Artenvielfalt ist in Brasilien beheimatet.
Brasilien ist auch ein Land der gesellschaftlichen Vielfalt: Die Bevölkerung setzt sich zusammen aus den ursprünglichen indigenen Völkern, aus Kolonialisten wie Portugiesen sowie vielen weiteren europäischen Immigranten – vorrangig aus Deutschland, Italien und Spanien, und Afrikanern. Von hochindustriellen Zentren mit vielen Menschen auf engem Raum bis hin zu den völlig abgeschieden lebenden indigenen Völkern ist alles vertreten.
Lebensfreude pur in Rio de Janeiro
Fragt man einen Reisenden, so beschreibt er die Menschen Brasiliens als sehr herzlich und aufgeschlossen. Was die Brasilianer aber besonders von anderen Menschenschlägen abhebt, ist ihre pure Lebensfreude, ihr immer währender Optimismus und ihre Gelassenheit. Dabei suchen Brasilianer keine Ruhe, sie suchen das pralle Leben, am besten laut und voller Energie. Dieses Leben spielt sich in Brasilien draußen ab. Als Europäer möchte man sich gerne von der guten Laune anstecken lassen, sich eine Scheibe von der brasilianischen Gelassenheit abschneiden und davon, dass die Uhren langsamer zu ticken scheinen.
Die 6-Millionen-Metropole Rio de Janeiro besticht durch die wunderschönen Strände am Atlantik. Die Copacabana und Ipanema gehören zu den bekanntesten Strandabschnitten der Welt. Fliegende Händler bieten eisgekühlte Getränke und frisches Obst an. Mit dem Zuckerhut und der Christusstatue, die auf dem Berg Corcovado thront und ihre Arme über der Stadt ausbreitet, sind weitere bekannte Wahrzeichen vorhanden. Von dem berühmten Karneval in Rio und den dazugehörigen ansehnlichen Sambatänzerinnen ganz zu schweigen.
Die Schönen und Reichen neben den Favelas
Doch nur einige Straßenabschnitte weiter, ganz in der Nähe der schönen Strände und des blühenden Lebens, spiegelt sich die Armut Brasiliens wieder. In den Armenvierteln, den sogenannten Favelas, leben Menschen unter schwierigsten Bedingungen. Die Favelas sind zumeist von Drogenkartellen und rechten Milizen kontrolliert und machen ein unbeschwertes Leben unmöglich. Trotzdem lassen sich die Brasilianer dadurch ihre Lebenslust nicht rauben.
Wirtschaftsmotor São Paolo
São Paolo unterscheidet sich stark von Rio de Janeiro. Die 12-Millionen Mega-Metropole ist die größte Stadt des Landes und gleichzeitig die Stadt mit der größten Vielfalt an ethnischen Gruppen: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts folgten viele dem Ruf, der São Paolo als Arbeitsparadies anpries – und blieben. Heute ist die Stadt der Wirtschaftsmotor des Landes: voller Dynamik, Geschäftigkeit und verwirrender Gegensätze.
Salvador de Bahia
Als die Portugiesen begannen, Brasilien zu kolonialisieren, war Salvador de Bahia die erste Stadt, die besiedelt wurde. Das war im Jahr 1549. Infolgedessen wurde die Küstenstadt im Nordosten des Landes damals zu einem der größten Umschlagplätze für Sklaven, deren afrikanischer Einfluss maßgeblich zur Entwicklung der Stadt beitrug.
Die Stadt an der Allerheiligen-Bucht ist auf einer Bergkette gebaut und in eine Ober- und Unterstadt unterteilt. Die Oberstadt wurde 1985 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt.
Brasilien: Die WM in der Kritik
Seit vergangenem Jahr gibt es in Brasilien immer wieder Proteste, die sich, je näher die WM kommt, häufen: Durch die WM wurde alles teurer, Immobilienpreise explodierten, viele können sich das alltägliche Leben in den Städten nicht mehr leisten. Was mit Protesten gegen erhöhte Fahrpreise für Busse und Bahnen in São Paolo begann, steigerte sich zu landesweiten Protesten, die die FIFA, ihre WM, aber auch die eigene Regierung kritisieren.
So forderte die Fifa acht WM-Stadien, die Regierung des Gastgeberlandes wollte lieber gleich zwölf: Viele Bewohner wurden zwangsweise umgesiedelt, um Platz für den Bau der Stadien zu schaffen. Die Städte Manaus, Cuiabá und Brasília, wo neue Stadien erbaut wurden, verfügen nicht einmal über einen Zweitligaclub. Zudem kam Ex-Präsident Lula da Silva seinem Versprechen nicht nach, dass die Kosten für die WM von privaten Sponsoren getragen würden – der Großteil wurde nun eben doch aus Steuereinnahmen finanziert. Nicht ungerechtfertigt ist also der Vorwurf, die Regierung verprasse Steuergelder, die sie lieber in das Schulsystem und die mangelhaft ausgestatteten Krankenhäuser investieren sollte.
Die brasilianischen Gemüter kochen über und die Regierung bringt kein Gehör für sie auf: Stattdessen werden derzeit selbst friedliche Demonstrationen im Keim und mit Gewalt erstickt. Polizisten gehen rabiat mit Demonstranten um und es kam bereits zu unschuldigen Todesopfern. Laut einer aktuellen Umfrage freuen sich nur noch 48 Prozent der Brasilianer auf die anstehende Fußball-WM. Das ist nicht viel für ein Land, das sich selbst als fußballverrückt beschreibt.
Es bleibt zu hoffen, dass die Brasilianer nicht ihren Optimismus verlieren, der sie sonst so stark macht. Denn das Land Brasilien – wenn auch nicht im Zuge der WM – ist allemal eine Reise wert.