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Training zur Geisterstunde, Länderspiel vor dem Aufstehen
- Stefan Schnürle
Als die Nationalmannschaft am vergangenen Freitag in Hamburg mit dem Training begann, gingen selbst in der so nachtaktiven Hansestadt vielerorts gerade die Lichter aus. Geübt wurde nämlich von 23.30 Uhr bis 1.00 Uhr in der Nacht. Zur Geisterstunde.
Das zweite von zwei Testspielen gegen die Schweden wurde in der Volksbank Arena am Sonntag um 8.30 Uhr angepfiffen. Da wurde die Stadt gerade mal wach. „Andere Trainingszeiten haben wir nicht bekommen“, sagt Bundestrainer Andreas Pokorny, „wir sind aber schon froh, dass es in Hamburg überhaupt geklappt hat.“ Derartige Spät- und Frühschichten werden gern in Kauf genommen.
Der ehemalige Eishockey-Nationalspieler Pokorny ist seit fast zwei Jahren Coach der deutschen Sledge-Eishockey-Nationalmannschaft. Sein Sohn ist selbst gehbehindert und mit dem Schlitten auf dem Eis, aber noch nicht alt und reif genug für die deutsche Auswahl. Pokorny packte die Herkules-Aufgabe trotzdem an.
Das Team hat im März die B-Weltmeisterschaft gewonnen und ist damit in die A-Gruppe aufgestiegen. Mitte Oktober versucht die Mannschaft beim Qualifikationsturnier in Turin einen von noch drei freien Plätzen für die Paralympics 2014 in Sotschi zu erobern. Das ist das große Ziel, die intensive Vorbereitung darauf begann an diesem Wochenende mit dem Trainingslager in Hamburg. Um 23.30. Gegen die Schweden, erster Gegner beim Qualifikationsturnier in einem Monat, gab es einen 3:2-Sieg und eine 1:4-Niederlage.
Im zweiten Spiel wurde auch der zweiten Garde eine Chance gegeben – „das Ergebnis war sekundär. In Spiel eins haben wir bewiesen, dass unsere Qualifikationschancen realistisch sind“, erklärte der Bundestrainer, der seinen Job nicht hauptberuflich ausübt, sondern mit viel, sehr viel Idealismus. Sotschi 2014 ist auch sein Traum. Denn anders als in Deutschland sind bei den großen internationalen Events die Hallen voll. In Sotschi dürfte Sledge-Eishockey erneut zu den Publikumsmagneten der Winterspiele zählen.
Sledgehockey: "Wichtig ist, dass du Gefühl im Arsch hast"
„Sotschi 2014“ steht auf einem Zettel innen an der Wohnungstür in Harburg von Frank Rennhack. Dazu Bilder von seinem Sport, olympische Ringe. Der Hamburger ist seit zwei Jahren der Kapitän des Teams. Er gilt als einer der besten Spieler der Welt. „Der Zettel ist noch eine zusätzliche Motivation, wenn man mal nicht so viel Lust auf Training hat“, erklärt der 23-Jährige. Aber das ist bei ihm eher selten. Schon mit 16 feierte er sein Debut in der Nationalmannschaft, war auch bei den Paralympics in Turin dabei: „Aber damals konnte ich das noch nicht so richtig einordnen.“
Fünfmal Training die Woche ist angesagt, die „Sledger“ sind paralympische Leistungssportler. Sporthilfe allerdings bekommen sie nicht, die Ausrüstung muss im Wesentlichen selbst bezahlt werden. Immerhin kommt der Deutsche Behindertensportverband für die Kosten der Reisen zu Turnieren und Trainingslager auf.
Das Spiel ist kaum weniger rasant und physisch fordernd als das Eishockey der „Läufer“ (Rennhack). Fünf gegen fünf plus Torwart, allerdings 15 Minuten Spielzeit pro Drittel, praktisch gleiche Regeln, gleiches Spielsystem. Nur dass sie in meist selbstgebauten Schlitten auf Kufen sitzen, einen kurzen Schläger in jeder Hand, der auch zum Vorwärtsabstoßen genutzt wird. „Mittlerweile werden die Spieler zweihändig ausgebildet um auf jeder Seite den Puck spielen zu können“, sagt Rennhack. Mit den Schlitten fahren und Balancieren vergleicht Außenstürmer Rennhack mit Motorradfahren: „Wichtig ist, dass du Gefühl im Arsch hast.“
Hat er. Die Nationalmannschaft besteht zum größten Teil aus Amputierten und inkompletten Querschnitten. Wie Rennhack. Der verlor mit zehn Monaten in Folge eines Kunstfehlers bei einer Herz-OP durch Sauerstoffmangel im Gehirn seine Mobilität in den Beinen. Seine „Steuerzentrale“ ist kaputtgegangen, die Nervenleitungen sind aber intakt. Er spürt zum Beispiel Schmerzen, kann auch leichte Bewegungen mit dem Fuß ausführen. „Ich kenne es nicht anders, es war immer so, es hat mich nie gestört“, sagt er, „ich glaube, es ist schlimmer, wenn du zum Beispiel nach einem Motorradunfall gelähmt bist.“
Seit drei Jahren wohnt der gebürtige Sachse in Hamburg, Freundin Teresa hat einen Job im Krankenhaus Altona angenommen, er ist mitgekommen und machte eine Ausbildung zum Veranstaltungs—Kaufmann, die er im Sommer abgeschlossen hat. Rennhack spielt jedoch in Adendorf in einer Spielgemeinschaft mit Bremern, ist dort auch Trainer. Vor zwei Jahren musste er mit den „Hamburg Bulldogs“ den Weg in die Heide gehen: „Dort waren wir willkommen, wurden und werden bei Eiszeiten unterstützt.“ Er sagt es nicht so, aber offenbar tat sich in Hamburg nichts dergleichen.
Sotschi heißt das große Ziel
Auch anderswo haben es die Ausnahme-Athleten nicht einfacher. Sledge-Eishockey ist immer noch ein weitgehend unbekannter Sport, die Probleme mit den Trainingshallen sind allgegenwärtig. Wie jetzt auch bei der Planung des Trainingslagers. „In Berlin ging es wochenlang hin und her, das Sportamt dort bevorzugt Berliner, es ist ein Wahnsinn“, sagt Pokorny.
Also Hamburg, auch mit diesen seltsamen Zeiten. Und jeder Menge organisatorischer Widrigkeiten. Der Jahresetat ist verschwindend gering – die Russen, erklärt Pokorny, haben ein mehr als zehnfaches Budget und schicken derzeit gleich drei Auswahlmannschaften durch die Welt, um für ihre Paralympics-Auswahl die richtige Mischung zu finden. Das deutsche Team muss um jedes gemeinsame Training kämpfen. Beim Auf- und Abbau in der Halle helfen die Betreuer, Trainer und Physios persönlich mit.
Pokornys Vorgänger, Michael Gursinsky, jetzt so etwas wie dessen Assistent, dazu Teammanager und Mann für alle Belange rund um die Mannschaft, ist an diesem Wochenende genauso in Action wie die Spieler. Eine ruhige Minute hat er nicht. Er kümmert sich auch gleich noch um die schwedischen Gäste, die Schiedsrichter – und darum, dass die Duschen warm sind. „Eigeninitiative ist Grundvoraussetzung, anders ginge es nicht“, sagt Gursinsky. Nichts ist bei diesen Länderspielen wie man es anderorts erwarten würde.
Aber all das nehmen er, Pokorny und sein Team auf sich. „Die Motivation ist bei allen Beteiligten extrem hoch“, sagt Pokorny. „Wir sind ein verschworener Haufen“, sagt Frank Rennhack. Alles für Sotschi – in Hamburg begann der Weg. Freitag um 23.30 Uhr.
Von Andreas Hardt und Frank Schneller