Anstoß für Verständigung Laureus

Anstoß für Verständigung

  • Redaktion
Eine spricht zu Hause Tür­kisch, eine Pol­nisch. Eine geht sams­tags zur Ko­ran­schu­le, eine hat ein ge­rahm­tes Bild von Jo­han­nes Paul II auf ihrem Nacht­tisch. Ein Hauch von Ori­ent weht durch das Wohn­zim­mer in der Heer­stra­ße, wo Cansu lebt; die vo­lu­mi­nö­sen Vor­hän­ge aus Taft, die Sitz­kis­sen auf dem Sofa mit Gold­fa­den durch­wirkt, auf dem Bei­stell­tisch mit Per­len be­stick­te Spit­zen­deck­chen. Bei Wio­le­ta in der Gee­st­stra­ße ist das Am­bi­en­te nüch­ter­ner, ge­rad­li­nig: die Wohn­zim­mer­re­ga­le aus la­ckier­tem Holz, Glas­plat­te auf dem Tisch, an den Fens­tern nicht mal Ja­lou­si­nen.

Cansu, 8, und Wio­le­ta, 11, leben in un­ter­schied­li­chen Wel­ten, ge­prägt von ver­schie­de­nen Kul­tu­ren. Can­sus El­tern sind Tür­ken; Erol Cinar, der Vater, wurde als eines von neun Kin­dern eines Gast­ar­bei­ters in Bre­men ge­bo­ren; die Mut­ter kommt aus Trab­zon am Schwar­zen Meer. Wio­le­tas Fa­mi­lie kam vor vier Jah­ren aus Torun in Pom­mern; Vater Mar­cin Kier­zek fand dort keine Ar­beit mehr, ei­ni­ge Jahre jobb­te er in den Nie­der­lan­den bis ihn die Tren­nung von Frau und Kin­dern zer­mürb­te. Da ist vie­les, was Cansu und Wio­le­ta trennt. Mut­ter­spra­che. Gott. Döner und Pie­ro­gi. Viel wich­ti­ger ist den Mäd­chen je­doch, was sie ver­bin­det. „Es ist gut“, sagt Wio­le­ta, „dass wir zu­sam­men Fuß­ball spie­len.“

Frei­tag, 14.45 Uhr. Die Turn­hal­le der Grund­schu­le am Pa­to­ren­weg in Bre­men-Grö­pe­lin­gen. Zehn Mäd­chen im Alter von acht bis elf Jah­ren sind ge­kom­men, dazu De­ni­se Dep­ken, 16, die das Trai­ning lei­tet. Eine Stun­de lang kracht und schep­pert und quietscht und dröhnt es vor an die Wände knal­len­den Bäl­len, rut­schen­den Turn­schu­hen und Ge­läch­ter. De­ni­se, die in der U17 bei Wer­der Bre­men aktiv ist, wun­dert sich je­des­mal, „dass die Girls zu allem Lust haben, was ich ihnen vor­schla­ge, selbst die lang­wei­ligs­ten Übun­gen, ihnen macht alles Spaß“. Seit zwei Jah­ren be­treut die Gym­na­si­as­tin die Mäd­chen, über die sie sagt: „Sie sind immer pünkt­lich, sie sind immer mo­ti­viert und sie er­zäh­len mir stän­dig alles, was sie er­lebt haben, in­klu­si­ve auf­ühr­li­cher Er­zäh­lun­gen vom letz­ten Kin­der­ge­burts­tag.“

Ki­cking Girls. So nen­nen sich die sechs Bre­mer Fuß­ball­pro­jek­te für Mäd­chen in so­zi­al be­nach­tei­lig­ten Stadt­tei­len, die alle nach dem sel­ben Mus­ter ent­stan­den: Eine Grund­schu­le und ein im Vier­tel an­säs­si­ger Sport­ver­ein - im Falle der Grund­schu­le am Pas­to­ren­weg ist es der Turn- und Ra­sen­sport­ver­ein (TURA) Bre­men – schlies­sen sich zu­sam­men und or­ga­ni­sie­ren Trai­ning und Tur­nie­re. Ent­wi­ckelt hat das Kon­zept das An-In­sti­tut „In­te­gra­ti­on durch Sport und Bil­dung“ der Uni­ver­si­tät Ol­den­burg, die es mit dem Deut­schen Fuß­ball-Bund um­setz­te. „Das Pro­jekt war von An­fang an der Ren­ner“, sagt Tho­mas Mur­ken, der zu­stän­di­ge Leh­rer am Pas­to­ren­weg: „Wenn wir eine Be­treu­ung hät­ten, könn­te ich so­fort eine Grup­pe mit Mäd­chen nur aus der ers­ten und zwei­ten Klas­se zu­sam­men­stel­len.“ Schul­lei­te­rin Bir­git Busch sagt: „Fuß­ball ist prä­sent, Fuß­ball ist be­liebt, jeder ver­steht die Re­geln. Wenn wir ein Schul­tur­nier aus­schrei­ben, mel­den si­ch150 von 250 Schü­lern.“

Grö­pe­lin­gen im Wes­ten Bre­mens, 35000 Ein­woh­ner. Wer Frau Busch bit­tet, ihre Schu­le vor­zu­stel­len, dem ant­wor­tet sie: „Dazu müs­sen Sie erst den Ort ver­ste­hen.“ Grö­pe­lin­gen war ein­mal ein pul­sie­ren­des Ar­bei­ter­vier­tel. Da­mals, als bei der Schiffs­werft AG Weser noch das Ge­schäft brumm­te. Und die Lin­den­hof­stras­se ein deut­sches Wirt­schafts­wun­der­ein­kaufs­pa­ra­dies war. 1983 mach­te die AG Weser plei­te, die deut­schen Be­woh­ner zogen weg. Die Ge­schäf­te in der Lin­den­hof­stra­ße heis­sen heute Ka­ra­ba­cak Rei­se­bü­ro, Selam Mar­ket oder Kis­met Bä­cke­rei. Ge­le­sen wird Hür­riy­et, Pla­ka­te wer­ben für tür­ki­sche DJs. Schul­lei­te­rin Busch sagt, heute hät­ten drei Vier­tel ihrer Schü­ler Mi­gra­ti­ons­hin­ter­grund: „Die meis­ten sind tür­ki­scher Her­kunft, wir haben aber auch afri­ka­ni­sche, ara­bi­sche, rus­si­sche, in­di­sche, al­ba­ni­sche, ser­bi­sche Kin­der, in jeder Schul­klas­se gibt es kaum noch Kin­der, deren Mut­ter­spra­che Deutsch ist.“

Prio­ri­tät hat für Schul­lei­te­rin Busch daher die För­de­rung des kul­tu­rel­len Aus­tausch. Die Schu­le be­tei­ligt sich an di­ver­sen Pro­gram­men des Bun­des und des Bre­mer Se­nats. Sie ko­ope­riert mit dem Zen­trum für in­ter­kul­tu­rel­le Stu­di­en, bie­tet Thea­ter-, Kunst­kur­se und Gei­gen­un­ter­richt, läßt sich von den Bre­mer Phil­har­mo­ni­kern Mu­sik­in­stru­men­te er­klä­ren. Auch ein Eltern­ca­fé haben sie ein­ge­rich­tet. Doch Busch hat fest­ge­stellt, dass es der Sport ist, der „die Kul­tu­ren mit spie­le­ri­scher Leich­tig­keit ver­bin­det“. Am An­fang bei­spiels­wei­se kamen die tür­ki­schen Müt­ter nur zum Fuß­ball­tai­ning. Auch aus Mi­ß­trau­en. Was pas­siert da genau? In­zwi­schen fah­ren sie mit zu Tur­nie­ren, su­chen den Kon­takt zu Müt­tern an­de­rer Mäd­chen und haben eine en­ge­re Bin­dung zu Lehr­kräf­ten wie Mur­ken ge­won­nen.

„Die Schu­le“, sagt Mar­tin Gör­lich, „ist für diese Leute der Fels in der Bran­dung – nur über die Schu­le ist das Ver­trau­en da.“ Gör­lich ist wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter der Uni­ver­si­tät Ol­den­burg und dort zu­stän­dig für die Ki­cking Girls. „Es geht darum, das Selbst­be­wusst­sein der Mäd­chen zu stär­ken“, sagt Gör­lich, „vor allem, wenn sie aus mus­lim­in­schen Fa­mi­li­en kom­men.“ Wo sie häu­fig wenig Frei­räu­me haben, statt­des­sen für Haus­halts­diens­te und die Be­treu­ung jün­ge­rer Ge­schwis­ter ab­ge­stellt wer­den. Für viele der Mäd­chen, so Mur­ken, sei eine Fahrt zu einem Tur­nier oft die erste Reise, die über das Vier­tel, in dem sie woh­nen, hin­aus führe. „Eine Me­dail­le, eine Ur­kun­de oder eine An­er­ken­nung zu be­kom­men“, so Gör­lich, „ist eine völ­lig neue Er­fah­rung. Toll ist aber, dass diese Er­fah­run­gen auch das Den­ken und Ver­hal­ten der El­tern ver­än­dern.“

Es sind nur schein­bar be­schei­de­ne Epi­so­den, die Busch, Mur­ken und Gör­lich er­zäh­len. Im klei­nen Leben ma­ni­fes­tie­ren sich oft die dra­ma­tischs­ten Ver­än­de­run­gen. „Ich kenne Mäd­chen“, so Gör­lich, „die durch Fuß­ball klei­ne Stars in der Fa­mi­lie wur­den, ein­mal be­such­te ich eine Fa­mi­lie mit drei Töch­tern, zwei tru­gen Kopf­tuch, eine nicht – es war die, die Fuß­ball spiel­te.“ Auch des­halb wird die Lau­reus Sport for Good Stif­tung Deutsch­land/Ös­ter­reich das Pro­jekt Ki­cking Girls in den nächs­ten drei Jah­ren auf ganz Deutsch­land aus­wei­ten. In 30 re­gio­na­len Pro­jek­ten in Ber­lin, Bay­ern, Nord­rhein-West­fa­len, Nord­deutsch­land und im Rhein-Main-Ge­biet sol­len dann 3600 Mäd­chen be­treut wer­den.

Cansu war sie­ben, als sie zu den Ki­cking Girls kam; zwei Jahre jün­ger als üb­lich. Das kör­per­li­che Manko, mach­te sie mit Kampf­geist und Wille wett. „Ob­wohl sie die Kleins­te war“, er­zählt De­ni­se, „hat sie sich nie un­ter­krie­gen las­sen, egal, wie oft sie hin­fiel, sie ist immer wie­der auf­ge­stan­den.“ Was si­cher auch an ihrem zwei Jahre äl­te­ren Bru­der Cü­neyt und einem Cou­sin liegt, mit denen sie im Hin­ter­hof der el­ter­li­chen Woh­nung schon lange vor­her ge­kickt hatte: „Die haben mir alle Tricks ge­zeigt, zum Bei­spiel, wie man grätscht.“ Wovon wie­der­um Wio­le­ta pro­fi­tiert, ein gro­ßes Mäd­chen, das sich ele­gant be­wegt, aber auch ein wenig zer­brech­lich wirkt. Von Can­sus Ro­bust­heit kann Wio­le­ta ler­nen. Mur­ken sagt, Cansu sei „für alle ein Vor­bild“. Und das nicht nur auf dem Fuß­ball­platz. „Sie ist eine en­ga­gier­te Schü­le­rin, sie ist flei­ßig, selbst­stän­dig und hält sich an die Re­geln.“

Na­tür­lich weiss Mur­ken, dass Ei­gen­schaf­ten, die einen in der Schu­le voran brin­gen, auch im Sport funk­tio­nie­ren. Und er ach­tet auch dar­auf, dass Ein­satz, Dis­zi­plin und Durch­set­zungs­ver­mö­gen ge­för­dert wer­den. Doch wenn Mur­ken die Kids nach einem Tur­nier nach Hause bringt, gibt es un­ter­wegs immer Eis­creme oder Pom­mes als Be­loh­nung, un­ab­hän­gig, ob ge­won­nen oder ver­lo­ren wurde. Trai­ne­rin De­ni­se sagt: „Das Wich­tigs­te ist, sie haben Spaß.“ Gör­lich meint: „Wir sind kein Welt­ver­bes­se­rungs­pro­jekt, aber diese Kin­der sind die El­tern von mor­gen, wenn wir es schaf­fen, ein an­de­res Frau­en­bild zu kre­ieren, so­zia­le Ver­hal­tens­mus­ter zu ver­än­dern, dann hat sich der Auf­wand ge­lohnt. Die Er­fol­ge des Pro­gramms wird man in zehn bis 15 Jah­ren er­ken­nen.“

An sowas den­ken Cansu und Wio­le­ta na­tür­lich nicht. Warum auch? Für sie ist Frei­tag­nach­mit­tag mit De­ni­se der Hö­he­punkt der Woche. Der nur über­trof­fen wird, wenn sie zu einem Tur­nier fah­ren und gegen an­de­re an­tre­ten. Dann kön­nen Cansu und Wio­le­ta wie­der zu­sam­men spie­len. Wio­le­ta sagt: „Cansu und ich – wenn wir zu­sam­men spie­len, kön­nen wir gegen alle ge­win­nen.“

Quelle: Laureus

(Hervorhebungen durch netzathleten.de)

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