Letzter Gong für die Hoffnung Laureus

Letzter Gong für die Hoffnung

  • Redaktion
„Denk nur“, sagt Gibi, „was durch den Kopf eines jun­gen Bo­xers geht, bevor er in den Ring steigt.“ Er wischt sich den Schweiß aus dem Ge­sicht. Schwie­li­ge Hand. Von hun­dert­tau­sen­den Schlä­gen ver­krümm­te Fin­ger glei­ten über eine fla­che, brei­te Nase. „Das Ad­re­na­lin“, sagt Gibi, „da ist das Ad­re­na­lin, du hast Angst, weil du ja auch Zwei­fel hast, aber vor allem ist da Stolz.“

Wieso Stolz? „Na, über­leg’ doch: Du kannst deine Kom­mu­ne re­prä­sen­tie­ren, alle kön­nen dich sehen, alle Augen auf dich, du kannst eine Me­dail­le ge­win­nen, einen Pokal. Stolz ist das Wich­tigs­te.“

An­to­nio Cruz, den alle Gibi nen­nen, steht an einem Box­ring zwi­schen Bars und Im­biss­bu­den. Fern­se­her und Ste­reo­an­la­gen lär­men. Ne­ben­an dröhnt der Ver­kehr. Gibi mas­siert einem Jun­gen den Hals, die Schul­tern, die Arme, reibt ihm Va­se­li­ne ins Ge­sicht. Jeder Hand­griff eine lie­be­vol­le Geste. Gibi, der nicht schrei­ben und lesen kann, weiß, was es be­deu­tet, wenn man al­lei­ne ist mit sich und einem Traum. So ist aus Gibi, dem Kind aus einem Ar­men­vier­tel in Sal­va­dor, der Boxer Cruz ge­wor­den, Mit­glied der bra­si­lia­ni­schen Na­tio­nal­mann­schaft. 181 Kämp­fe, 162 Siege, 40 Titel. Vor neun Jah­ren wurde er Trai­ner. Der Junge, der vor ihm steht, heisst Luiz. Gleich wird er ihn in den Ring schi­cken. Luiz Hen­ri­que Gomes da Silva, 16, ist Gibis Lieb­lings­schü­ler.

Rio de Ja­nei­ro, Com­plexo da Maré, eine An­samm­lung von Fa­ve­las, wie man Slums in Bra­si­li­en nennt. Maré liegt im Nor­den von Rio, vom Meer nur ge­trennt durch die Linha Ver­mel­ha, eine Schnell­stra­ße, die zum Flug­ha­fen führt. Es ist Sams­tag­nach­mit­tag, und Luta Pela Paz (Kampf für den Frie­den) ver­an­stal­tet heute ein klei­nes Tur­nier. LPP ist eine ge­mein­nüt­zi­ge Or­ga­ni­sa­ti­on, die 2000 vom Bri­ten Luke Dowd­ney ge­grün­det wurde und Boxen, Rin­gen, Judo und Ca­poei­ra für Kin­der und Ju­gend­li­che an­bie­tet. Heute wer­den die Boxer und Rin­ger von LPP an­tre­ten gegen junge Ath­le­ten aus Sport­schu­len in Rio, Sao Paulo und dem Bun­des­staat Min­has Ge­rais. 550 Kin­der und Ju­gend­li­che be­trei­ben Sport, 250 wei­te­re neh­men am Schul­un­ter­richt, Auf­klä­rungs­kur­sen in HIV und Aids oder an LPPs Job­ver­mitt­lung teil. Die Lau­reus Sport for Good Foun­da­ti­on un­ter­stützt LPP seit 2003 und ver­lieh Dowd­ney für seine Ar­beit 2007 den Sport for Good Award.

„Ich bin glau­be total an Lukes Ar­beit“, sagt Ga­brie­la Pin­hei­ro, „er hat er­kannt, dass Sport wich­tig ist, aber er ist nur eine von vie­len Säu­len ist, auf der eine funk­tio­nie­ren­de Kom­mu­ne auf­ge­baut ist.“ Sie sitzt, eine junge, en­er­gi­sche Frau, im Büro der Aka­de­mie. So nen­nen sie ihr blau be­mal­tes, drei­stö­cki­ges Ge­bäu­de, das zwi­schen einer ecki­gen Kir­che und einem ver­wahr­los­ten Sport­platz liegt. Pin­hei­ro ist bei LPP für die Fi­nan­zen zu­stän­dig, ak­qui­riert Spon­so­ren und Spen­den. Sie steht auf und holt Stift und Pa­pier. Zeich­net ein lang­ge­zo­ge­nes Oval, in das sie Qua­dra­te malt, ein­ge­fasst von zwei Tan­gen­ten. „Also, das Oval ist Maré, der gröss­te Fa­ve­la-Kom­plex Bra­si­li­ens, die Tan­gen­ten sind die Schnell­stras­sen, die Aven­i­da Bra­sil und die Linha Ver­mel­ha.“

125000 Men­schen leben in Maré, das aus 17 Fa­ve­las be­steht. Sie heis­sen Par­que Uniao, Par­que Ru­bens Vaz, Baixa­do Sa­pa­tei­ro oder Morro do Tim­bau und sind für Aus­sen­ste­hen­de kaum zu un­ter­schei­den. Wil­des, wir­res Kas­ten­land. Rohe Zie­gel­stei­ne, Beton, Well­blech, Plas­tik, Dräh­te und Rohre zwi­schen Bra­chen und Kloa­ken. Pin­hei­ro schraf­fiert die Qua­dra­te. „Sehen Sie, hier re­giert das VC, hier das Ter­ce­i­ra Co­man­do, hier wie­der VC, hier wie­der Ter­ce­i­ra.“ Ein Flick­werk von Ter­ri­to­ri­en, deren Gren­zen un­sicht­bar sind, in denen sich nur Ein­hei­mi­sche die si­che­ren Rou­ten ken­nen, die je­doch nie völ­lig si­cher sind.

VC, er­zählt Pin­hei­ro, stehe für Co­man­do Ver­mel­ho, also das Rote Kom­man­do, Ter­ce­i­ra Co­man­do heis­se so­viel wie Drit­tes Kom­man­do. Es sind kri­mi­nel­le Ban­den, ver­strickt im Dro­gen- und Waf­fen­han­del, die er­pres­sen und mor­den und sich er­bar­mungs­los be­krie­gen. Als Pin­hei­ro das er­zählt, ist es Don­ners­tag, der Tag nach einer Schie­ße­rei, bei der das bra­si­lia­ni­sche Mi­li­tär mit Pan­zern und Hub­schrau­bern ein­rück­te, tags dar­auf wer­den nicht weit von LPP, in der Fa­ve­la Nova Ho­lan­da, zwei junge Män­ner vor einem Re­stau­rant ge­tö­tet. Ta­xi­fah­rer raten Pas­sa­gie­ren sich in Maré ab­zu­schnal­len, damit sie bei einer Schie­ße­rei schnell aus­stei­gen und De­ckung su­chen kön­nen. Pin­hei­ro: „Wie sol­len sich junge Men­schen in die­sem Klima der Ge­walt ohne Hilfe ver­nünf­tig ent­wi­ckeln?

Luiz. Ein drah­ti­ger Junge, gross, ernst­haft, still. Sein Vater ist kurz nach sei­ner Ge­burt ge­stor­ben. Was pas­siert ist? Luiz zuckt mit den Ach­seln. Auch warum er nicht bei sei­ner Mut­ter, son­dern bei der Gro­ß­mut­ter lebt, bleibt un­klar. Nur so­viel: „Ich habe ge­lernt, be­schei­den zu sein.“ Die Gro­ß­mut­ter muss­te bet­teln, um ihn durch­zu­brin­gen. Doch jetzt zahlt ihm LPP mo­nat­lich 250 Real (115 Euro), dazu er­hält er ein Es­sens­pa­ket mit Nu­deln, Reis, Boh­nen. „Wir sind im Leben die­ser Kin­der oft die ers­ten, die sich wirk­lich küm­mern“, sagt Ga­brie­la, „wenn sie nicht mehr zum Trai­ning oder zum Un­ter­richt kom­men, rufen wir an; wenn sie nicht ans Te­le­fon gehen, schaut je­mand bei ihnen vor­bei; wir zei­gen ihnen, dass es für alles einen Weg gibt.“ 28 Kämp­fe hat Luiz bis­lang be­strit­ten. 28 Siege. Er sagt: „Trai­nie­re hart, höre auf dei­nen Trai­ner, ver­giß’ nie dein Ziel.“

Das Ziel, das große Ziel. Daran denkt er, als er an die­sem Sams­tag­nach­mit­tag in den Ring steigt. Nicht an Nova Ho­lan­da, die Fa­ve­la, die Angst, auf die Stra­ße zu gehen. Nicht an die alten Kum­pel, die nicht mehr zu Schu­le kom­men und dafür mit Re­vol­vern rum­lau­fen. Luiz denkt, dass ihn jetzt alle sehen kön­nen, dass er gegen die­sen An­der­son dos San­tos ge­win­nen wird. Er ist flin­ker, ge­schmei­di­ger, seine Reich­wei­te ist län­ger. Doch Luiz tut sich schwer, der an­de­re prü­gelt mutig zu­rück. Nach der ers­ten Runde sagt Gibi: „Mein Junge, du bist ihr Held, ent­täu­sche sie nicht.“ Viel­leicht denkt Luiz jetzt an Ro­ber­to Custódio, der auch ein Held ist in Maré, der mit 14 zu LPP kam und jetzt in der bra­si­lia­ni­schen Na­tio­nal­mann­schaft boxt. Zwei­te Runde. Luiz schlägt, schlägt, doch sein Geg­ner schlägt zu­rück. Vor der drit­ten, der letz­ten Runde sagt Gibi: „Du musst dir diese Runde holen, mein Junge, sonst wirst du den Kampf nicht ge­win­nen.“

Ge­win­nen ist ein gro­ßes Wort. Ge­ra­de für Kin­der, die in eine Welt ge­bo­ren wer­den, in der man nur ver­lie­ren kann. Am Ring steht Car­los Edu­ar­do de Lima, 12, der nicht weiß, wo seine El­tern und wie alt seine Ge­schwis­ter sind und der die drit­te Klas­se der Schu­le wie­der nicht be­stan­den hat. Da ist Wan­der­son de Olivei­ra, 14, des­sen äl­tes­ter Bru­der er­schos­sen wurde, des­sen Vater ver­schwun­den ist und des­sen Mut­ter sagt: „Ich bin Mann und Frau im Haus.“ Bleibt nur eine Chan­ce, wie Gibi glaubt: „Beim Boxen kön­nen sie ihre ne­ga­ti­ven Er­fah­run­gen und Ag­gres­sio­nen po­si­tiv um­set­zen, Boxen lehrt dich, er­wach­sen zu wer­den, ein Mann zu wer­den.“ Wie Wan­der­son, den sie „Sugar“ nen­nen, weil er so hübsch ist wie Sugar Ray Leo­nard und viel Ta­lent hat. „Sugar! Sugar!“, ju­belt die Menge, wenn Wan­der­son boxt. „Siege, Be­stä­ti­gung, das brau­chen sie“, sagt Gibi, „jeder Sieg gibt ihnen mehr Selbst­ver­trau­en.“

Kön­nen wir die Welt ret­ten?“, hatte Pin­hei­ro ge­fragt: „ Nein, aber wir kön­nen jun­gen Men­schen bei­brin­gen, dass es etwas Bes­se­res gibt, als be­wun­dert zu wer­den für Dro­gen­han­del und Töten.“ Der klei­ne Car­los weiss schon: „So wie Luiz und ‚Sugar’ will ich ein­mal wer­den.“

Gong, letz­te Runde. Luiz kommt aus der Ecke. Das Ad­re­na­lin pumpt. Er will den 29. Sieg. Er braucht ihn. Hätte seine Mut­ter die Rei­se­an­trä­ge un­ter­schrie­ben, hätte er die­sen Som­mer an den Pan­ame­ri­ka­ni­schen Meis­ter­schaf­ten in Me­xi­ko teil­ge­nom­men. Hat sie nicht. „Ich ver­ste­he die­sen Hass nicht“, sagt Gibi, „aber jetzt wird es schwer für ihn, in­ter­na­tio­na­le Er­fah­rung ist in sei­nem Alter ent­schei­dend.“ Luiz lan­det jetzt einen Tref­fer nach dem an­de­ren. Der Geg­ner wankt, aus­ge­pumpt, ge­schla­gen. Gibi sagt: „Luiz’ Ein­satz und Wille sind grös­ser, als bei allen an­de­ren.“

Hen­ri­que Gomes da Silva, des­sen Ziel es ist, Ma­ri­ne­sol­dat zu wer­den, der für Bra­si­li­en bei den Olym­pi­schen Spie­len 2016 boxen will, ge­winnt klar nach Punk­ten. Als alle Kämp­fe vor­bei sind, wird er noch ein­mal in den Ring ge­ru­fen. Die Punkt­rich­ter haben ihn zum bes­ten Boxer des Tur­niers ge­wählt.

 

Quelle: Laureus

(Hervorhebungen durch netzathleten.de)

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