Ein Boxring voller Sieger
- Redaktion
Sie könnten erzählen, wie das Leben auf der Straße funktioniert, wie sie reingezogen wurden in die Probleme und Tumulte des Rollberg-Viertels; wie sie um Aufmerksamkeit und Respekt buhlten, Mitläufer wurden in ihrem Kiez, in dem die Kids unterteilt werden in „Checker“ und „Loser“ und wenig dazwischen. Täter und Opfer. Sie könnten erzählen, wie es zu den Schlägereien kam, den Anzeigen wegen Diebstahl und gefährlicher Körperverletzung, von von der Brutalität, mit der sich die Kids begegnen. Psychoterror, Erniedrigung, Faust in die Fresse.
Ali Faour, Mohammed El-Mosleh und Nebojscha Radosavljevíc sind Kumpel. Ali und Mohammed, beide 17, beide libanesisch-arabischer Herkunft, sind miteinander aufgewachsen, Nebojscha, 19, den alle Nebo nennen, kennen sie seit fünf Jahren. Gerne gehen sie zusammen ins Café und spielen Karten oder sie sitzen am PC, spielen Autorennen auf Video, gucken You Tube, texten auf Facebook. Ali sagt: „Wir versuchen Spaß zu haben.“ Heute sitzen sie auf einer Bank in einer alten Sporthalle. Kahle Wände, Sandsäcke, hinten in der Ecke ein Boxring. Ali sagt: „Weißt du, Araber, Türke oder Serbe wie Nebo – bei uns spielt das keine Rolle, wenn du Herz hast, hast du Herz.“ Mohammed sagt: „Wenn du keine Freunde hast, bist du ein Nichts.“ Hört sich pathetisch an, ist aber ernst gemeint. Ihre Geschichte erzählen sie trotzdem nicht.
Neue Krugallee 219, Stadtteil Treptow. Der Coach kommt. Kräftiger Typ, angenehm weiche Stimme. Erste Frage: „Wer von euch fastet?“ Es ist der 10. August, die zweite Woche des Ramadan. Elf Jungs sind da, acht heben die Hand. „Okay“, sagt der Coach, „wenn euch schlecht wird, geht ihr raus und spült den Mund mit Wasser aus.“ Dann geht es los. Warmlaufen, Seilspringen, an die Sandsäcke. Später Pratzentrainig. Zum Abschluß Gymnastik. Für die Rückenmuskulatur. „Hört auf zu quatschen“, bellt der Coach: „Grundübung hier heisst Disziplin, also Klappe halten und Zuhören!“ Der Coach fordert: „Kommt, hoch, hoch, kommt schon!“ Er korrigiert: „Nicht ins Hohlkreuz fallen!“ Er sagt: „Los, los, Gesäß anspannen!“ Gesäß? Fragt einer: „Was’n das.“ Coach: „Gesäß ist dein Arsch.“
Er heisst Thomas Jansen, er leitet „Kick im Boxring“, Teil des Berliner Kick-Projekt, das vom Senat in Zusammenarbeit mit der Polizei und dem Landessportbund betrieben wird. Jugendliche aus sozial benachteiligten Stadtteilen machen Sport. Damit sie weg sind von der Straße, Regeln kennenlernen, Werte wie Fairness, Respekt, Toleranz entdecken, die Finger von Drogen lassen. Damit sie nicht, so Jansen, „auf dumme Gedanken kommen“. Klassische Kriminalprävention. Wenngleich Jansen „viel Überzeugungsarbeit leisten musste“, um die Polizei zu überzeugen, dass die auch mit Boxen erreicht werden kann: „Die sagten: ‚Jetzt werden die zu Schlägern ausgebildet, mit denen wir eh schon Probleme haben’.“ Das war 2007. Inzwischen hat Kick im Boxring vier Stützpunkte in Berlin; insgesamt werden 250 Kinder und Jugendliche betreut, unterstützt von der Laureus Sport for Good Foundation und deren Botschaftern Vitali und Wladimir Klitschko.
Jansen war Boxer. Talentierter Amateur, Weltergewicht, Berliner Meister, norddeutscher Meister, nur drei verlorene Kämpfe. Als Profi reichte es er nur noch zu zwei Siegen. „Ich hab nicht dafür gelebt“, sagt Jansen, „falsche Kreise, Verträge in der Kneipe unterschrieben und so weiter.“ Daran muss er immer denken, wenn er junge Leute betreut, zumal Kinder von Zuwanderern, die besonders gefährdet seien, auf die schiefe Bahn zu geraten: „Die wachsen auf mit Angst: vor der Gesellschaft, der Bürokratie, unserer Kultur. Ihre Reaktion ist Gewalt, weil Gewalt ein Gefühl von Stärke, von Macht produziert.“ Was Boxen damit zu tun hat? „Beim Boxen können sie ihre Aggressionen auf gesunde Art abarbeiten, ein gutes Gefühl von Stärke aufbauen, Boxen zwingt dich zu Eigenverantwortung. Wie gehe ich mit Widerstand um, wie mit Herausforderungen? Laufe ich weg oder stelle ich mich? Wenn du dich in Neukölln rumtreibst, wie Ali, Mohammed oder Nebo, dann fragst du dich das täglich.“
Neukölln, 8. Berliner Verwaltungsbezirk, 312000 Einwohner aus 165 Nationen. 38 Prozent der Bewohner, 60 Prozent der Jugendlichen sind nicht deutscher Herkunft. Jeder Vierte ist arbeitslos. Jedes zweite Baby wächst in einem Hartz-IV-Haushalt auf. An den Hauptschulen fehlen 25 Prozent der Schüler mehr als 21 Tage im Jahr. Das Neuköllner Jobcenter hat die niedrigste Vermittlungsquote Deutschlands. Es gibt zu wenig Ärzte, dafür Wachdienste an Schulen. Gemessen an seinen Einwohnern hat Neukölln die wenigsten Kindertagesstätten, Jugend- und Seniorenheime in Berlin. Zusammen ergibt das ein katastrophales Image. „Neukölln“, schreibt Wikipedia, „wird immer wieder als prominentes Beispiel für ein ganzes Bündel sozialer Problemsituationen genannt.“
Neukölln ist längst Synonym für ein urbanes Desaster. Bildungsferne. Jugendgewalt. Kriminalität. Parallelgesellschaft. Das gilt primär für den Rollberg-Kiez, im Norden des Stadttteils, zwischen Hermann- und Karl-Marx-Straße, gelegen, wo sich Gründerzeitarchitektur mit Wirtschaftswunderbeton paart. Wo zwei Drittel der Bewohner Zuwanderer sind, Drogenhandel und Kriminalität grassiert. Wo arabische und türkische Familienklans ganze Straßenzüge regieren, wo sich Jugendbanden bekriegen, die sich Arabian Gangster Boys oder Neuköllner Ghetto Boys nennen und bei denen Happy Slapping zum guten Ton gehört. Zuschlagen ist cool. Wer am härtesten zuschlägt, ist der Coolste. Neuköllns Bürgermeister Heinz Buschkowsky sagte einmal angesichts dieser Verhältnisse: „Multikulti in Deutschland ist gescheitert.“
In Neukölln sind sie groß geworden. Ali in einer Familie mit sechs Geschwistern, Vater arbeitslos, Mutter Hausfrau, in vier Zimmern, noch heute lebt er mit seinen vier Brüdern, die 14 bis 19 sind, in einem Raum: „Klar, da ist immer Krach.“ Mohammed hat sieben Geschwister, ein älterer Bruder hat ihn mal verprügelt, nur weil er ihn mit einer Zigarette erwischte. „Auf der Straße ist ständig Stress, Alarm“, erzählt Nebo, „neulich hatte ich wieder einen vor mir, der das Messer zog.“ Kein Freiraum und Langeweile zu Hause, Machogehabe und Gewalt auf der Straße. So wäre das bis heute, hätten sie nicht von Kick im Boxring erfahren, dessen Stützpunkt in der Halle der Neuköllner Sportfreunde, Oderstraße 182. Seither trainieren sie dreimal pro Woche. „Boxen“, sagt Ali, „war unsere Rettung.“ Wenn man Mohammed fragt, was er daran möge, sagt er: „Alles: den Schweiß, den Schmerz, den Wettkampf, die Siege, das Training, einfach alles.“ Sechs Kämpfe hat er bereits bestritten, sechs gewonnen, jetzt will er Profi werden. Ali: „Mohammed glaubt an sich, der schafft das.“
Eigenverantwortung, Engagement, Selbstbewusstsein. So einfach ist das. Man muss sie nur beobachten in Treptow, wo Jansen jährlich ein zweiwöchiges Sommercamp veranstaltet. Junge, gepflegte Männer, die pünktlich kommen, sich artig vorstellen. Die sich im Training gegenseitig motivieren, coachen, Vorbilder für die Trainingsgruppe sind. Jansen erzählt: „Als sie kamen, waren sie nur wild, jedes Sparring war Krieg.“ Viel Wut, viel Kraft, keine Kontrolle. Ali setzte sich bei einen seiner ersten Kämpfe auf seinen Gegner und traktierte ihn mit Hieben. Weil er vorher mit fairen Mitteln keine Chance hatte. Jansen erkundigte sich, fand heraus, dass Ali kurz vorher wegen Diebstahls verhaftet worden war und „überall Stress hatte: in der Familie, in der Schule“.Jansen vermittelte beim Vater, bei der Polizei. Ali sagt: „Thomas redet nicht nur, Thomas macht, er hilft auch bei Jobsuche, berät uns bei Ausbildungsfragen.“ Und er kümmert sich auch um Mohammeds sportliche Ambitionen. Jansen: „Der soll das langsam angehen, bloß nicht verheizen.“
„Sie zu beurteilen wie ein Oberlehrer“, sagt Jansen, „bringt dich aber nicht weiter, du musst zuhören, über eigene Erfahrungen sprechen, dann erreicht man sie. Dann hören sie auf, die Schule zu schwänzen, fangen an, ihre Hausaufgaben zu erledigen, sich Ziele zu setzen im Boxen wie im Leben. Ali hat beschlossen, das Abitur zu machen und später BWL zu studieren. Nebo fängt in wenigen Tagen eine Ausbildung bei der Telekom an. Mohammed sucht noch eine Lehrstelle, arbeitet aber für Jansen als Honorartrainer: „Damit er lernt, dass nicht nur Nehmen zählt, sondern auch Geben.“ Hoffnungslosigkeit, Frust, Rumhängen und Ärger machen? Ali: „Das war früher.“ Deshalb erzählen sie ihre Geschichte nicht gerne. Nicht, was war, zählt, sondern was ist. Das macht sie stolz.
Quelle: Laureus
(Hervorhebungen von netzathleten.de)