MT Melsungen -- Ex-Nationalapieler, Europameister, Vize-Weltmeister, heute Sportvorstand des Handball-Bundesligisten MT Melsungen
Nach ‚Jahrhundertspiel‘ nun Mitfavorit auf Gold
- Michael Allendorf
Spannender geht es nicht! Unser Experte Michael Allendorf (Sportvorstand MT Melsungen) blickt auf das epische Spiel des DHB-Teams gegen Frankreich zurück und auf den nächsten Thriller voraus.
Gibt es eigentlich nur ein ‚Jahrhundertspiel‘ pro Jahrhundert? Gefühlt war das Viertelfinale unserer Handball-Jungs gegen Frankreich, Gastgeber und Olympiasieger von Tokyo, ein solches. Jedenfalls, was Dramatik und Emotionen betrifft. Der letzte Krimi dieser Art – auch das so eine Art Jahrhundertspiel – war in meinen Augen das WM-Halbfinale 2007 in Deutschland, als die DHB-Auswahl auf dem Weg zum Titel ebenfalls Frankreich besiegte. Auch damals in der Verlängerung. Seinerzeit waren 19.000 Zuschauer in Köln auf unserer Seite. Jetzt waren 27.000 Fans im Stadion von Lille auf Seiten ihres Teams, der Franzosen.
Insofern haben wir nicht nur gegen die – im Vergleich zur Gruppenphase übrigens deutlich stärkeren – französischen Stars gewonnen, sondern auch gegen dieses frenetische Publikum. 35:34 (29:29; 14:17) – das war eine Reifeprüfung par excellence. Und eine mittlere Sensation.
Wer solche Spiele gewinnt, eigentlich gegen alle Widrigkeiten, gegen ein Team wie Frankreich und diese gigantische Kulisse, muss sich zum Kandidaten auf die Goldmedaille bei diesen Olympischen Spielen zählen lassen. Die Mannschaft von Alfred Gislason trotzte allem, was gegen sie sprach: Die Atmosphäre in der Halle, die Leistungssteigerung des französischen Starensembles, die vielen verworfenen Siebenmeter, die zum Teil deutlichen Rückstände, die teils doch noch mangelnde Cleverness und Traute in wichtigen Phasen während der ‚Crunchtime‘. Und der Umstand, dass unser Team Frankreichs Keeper Vincent Gérard zwischenzeitlich zum Weltmeister warf– denn der war zwar gut aufgelegt, aber in Wirklichkeit gar nicht so überragend. Er wurde vielmehr fortwährend mit haltbaren Würfen von unseren Jungs in Szene gesetzt. Von einigen entscheidenden Ausnahmen abgesehen – dazu gleich mehr.
Der – wohlwollende– Abgesang war gedanklich schon fertig
Während ich das Spiel verfolgte, sortierte ich bereits meine Eindrücke: Vielleicht hätten wir doch cleverer sein müssen – um Frankreich aus dem Weg zu gehen, wie die Slowenen. Cleverer auch im Spiel selbst. Spätestens als die Gastgeber direkt nach der Pause von 14:17 auf 14:20 davonzogen, war ich auf eine Niederlage unseres Teams eingestellt. Die Vorzeichen schienen klar. Auch, als wir uns mit toller Moral und Teamgeist wieder herangearbeitet hatten, schien am Ende doch das Fazit naheliegend, dass wir uns zwar ehrenvoll und gut verkauft haben, aber eben doch ausgeschieden sind. Nicht zuletzt auch aufgrund einiger Schwächen im eigenen Spiel. Denn, Hand aufs Herz: Wir waren über weite Strecken nicht so perfekt an diesem Tag, wie es Alfred Gislason vorher für notwendig erachtet hatte.
Also: Gut verkauft, aber eben doch ausgeschieden. Wieder einmal. Ähnlich wie unsere DHB-Frauen, ebenfalls im Viertelfinale gegen Frankreich am Tag zuvor – wenn auch mit einer ganz anderen Bilanz in der Gruppenphase. Selbst nach dem Anschlusstreffer kurz vor dem Abpfiff lief es darauf hinaus: Raus mit Applaus. Frankreich zu stark für uns.
Das Geschenk eines Superstars dankend angenommen
Dann aber überreichte uns Weltklassespieler Dika Mem sechs Sekunden vor dem Ende ein Geschenk – und wir haben es ausgepackt.
In neuneinhalb von zehn Fällen, hat ein Spieler wie er die richtige Idee für solch eine Situation – und die Angelegenheit ist erledigt. Aber sein Fehler beim Anwurf bescherte uns den Ausgleich in letzter Sekunde.
Wie wir dann in der Verlängerung unsere Chance ergriffen, war natürlich absolut überragend. Wir haben plötzlich eine Stressfestigkeit bewiesen, die man eigentlich von den Franzosen erwartet hatte. Moral und Energie unserer Jungs kann man gar nicht genug betonen. Und die Leistung eines jungen Mannes im deutschen Trikot nicht hoch genug bewerten: Unser Dika Mem, der junge Renars Uscins im rechten Rückraum, begeistert mich schon das ganze Turnier über. Was er aber gegen Frankreich ablieferte, war noch einmal eine Steigerung.
Wie kaltschnäuzig und nervenstark er mit der beinahe permanenten Wurfverantwortung umging, wie er sich auch durch zwei von Gerard festgehaltene Würfe nicht beeindrucken ließ, dann auch unsere Siebenmeter-Krise beendete und aus allen Lagen traf – das war herausragend. Eine Weltklasse-Vorstellung.
Matchwinner Renars Uscins ist im Flow, ihm gelingt nahezu alles
Der große Dika Mem vom FC Barcelona erzielte zehn Tore – unser junger Renars Uscins übertrumpfte ihn aber mal eben mit 14/3 Treffern. Ich hatte ja bereits darauf hingewiesen: Er ist in einem Flow, er kann nahezu entscheiden und machen, wie und was er will – es kommt fast immer das richtige Resultat dabei heraus. Intuitiv. Ohne viel nachzudenken. Damit hat er sozusagen die Endstufe eines Handballers gezündet. Was hat der Junge für einen Lauf.
Ebenfalls stark – und es geht dabei nicht nur um die Trefferzahl: Juri Knorr als Regisseur. Er hinterlässt einen viel besseren Eindruck bei Olympia als noch bei der EM. Dazu einmal mehr Johannes Golla als Stabilitätsspieler, defensiv wie offensiv. Er wurde am Kreis zunächst gut abgeschirmt von der französischen Abwehr, dennoch war er über 70 Minuten doch wieder ein Faktor. Und: David Späth. Erneut löste er Andreas Wolff im Tor ab und gab mit seinen Paraden der Abwehr mehr Stabilität. Zugleich sorgte er für eine bessere Ausgewogenheit im Torwartduell, das wir zunächst klar zu verlieren schienen, womit vermutlich kein Experte gerechnet hatte.
Spanien-Spiel wird nächster Thriller. Wieder mit Happy End
Nun also Halbfinale. Um Bronze spielen wir in jedem Fall. Mindestens. Gegner am Freitag ist erneut Spanien. In der Vorrunde sind sich beide Teams schon einmal begegnet. Die DHB-Auswahl hat knapp gewonnen. Zweimal in so kurzer Zeit werden sich die Spanier nicht vom selben Gegner besiegen lassen wollen. Es wird sicherlich das nächste intensive, dramatische Duell.
Aber wie bereits erwähnt: Ich rechne damit, dass unsere Jungs nach diesem Thriller gegen Frankreich auf Finalkurs sind und sich davon nur noch schwer bis gar nicht mehr abbringen lassen. Wer sagt denn, dass es nicht noch weitere Jahrhundertspiele geben kann. Sogar während eines olympischen Handballturniers.
Bis zum Wochenende!
Euer Michael Allendorf.
Moment! Eines noch: Au revoir, Nikola Karabatic. Der ‚Goat‘ tritt ab. Das ging im Drama von Lille nahezu unter. Ich möchte ihm an dieser Stelle noch einmal meinen allerhöchsten Respekt für seine unglaubliche Karriere zollen.
Insofern haben wir nicht nur gegen die – im Vergleich zur Gruppenphase übrigens deutlich stärkeren – französischen Stars gewonnen, sondern auch gegen dieses frenetische Publikum. 35:34 (29:29; 14:17) – das war eine Reifeprüfung par excellence. Und eine mittlere Sensation.
Wer solche Spiele gewinnt, eigentlich gegen alle Widrigkeiten, gegen ein Team wie Frankreich und diese gigantische Kulisse, muss sich zum Kandidaten auf die Goldmedaille bei diesen Olympischen Spielen zählen lassen. Die Mannschaft von Alfred Gislason trotzte allem, was gegen sie sprach: Die Atmosphäre in der Halle, die Leistungssteigerung des französischen Starensembles, die vielen verworfenen Siebenmeter, die zum Teil deutlichen Rückstände, die teils doch noch mangelnde Cleverness und Traute in wichtigen Phasen während der ‚Crunchtime‘. Und der Umstand, dass unser Team Frankreichs Keeper Vincent Gérard zwischenzeitlich zum Weltmeister warf– denn der war zwar gut aufgelegt, aber in Wirklichkeit gar nicht so überragend. Er wurde vielmehr fortwährend mit haltbaren Würfen von unseren Jungs in Szene gesetzt. Von einigen entscheidenden Ausnahmen abgesehen – dazu gleich mehr.
Der – wohlwollende– Abgesang war gedanklich schon fertig
Während ich das Spiel verfolgte, sortierte ich bereits meine Eindrücke: Vielleicht hätten wir doch cleverer sein müssen – um Frankreich aus dem Weg zu gehen, wie die Slowenen. Cleverer auch im Spiel selbst. Spätestens als die Gastgeber direkt nach der Pause von 14:17 auf 14:20 davonzogen, war ich auf eine Niederlage unseres Teams eingestellt. Die Vorzeichen schienen klar. Auch, als wir uns mit toller Moral und Teamgeist wieder herangearbeitet hatten, schien am Ende doch das Fazit naheliegend, dass wir uns zwar ehrenvoll und gut verkauft haben, aber eben doch ausgeschieden sind. Nicht zuletzt auch aufgrund einiger Schwächen im eigenen Spiel. Denn, Hand aufs Herz: Wir waren über weite Strecken nicht so perfekt an diesem Tag, wie es Alfred Gislason vorher für notwendig erachtet hatte.
Also: Gut verkauft, aber eben doch ausgeschieden. Wieder einmal. Ähnlich wie unsere DHB-Frauen, ebenfalls im Viertelfinale gegen Frankreich am Tag zuvor – wenn auch mit einer ganz anderen Bilanz in der Gruppenphase. Selbst nach dem Anschlusstreffer kurz vor dem Abpfiff lief es darauf hinaus: Raus mit Applaus. Frankreich zu stark für uns.
Das Geschenk eines Superstars dankend angenommen
Dann aber überreichte uns Weltklassespieler Dika Mem sechs Sekunden vor dem Ende ein Geschenk – und wir haben es ausgepackt.
In neuneinhalb von zehn Fällen, hat ein Spieler wie er die richtige Idee für solch eine Situation – und die Angelegenheit ist erledigt. Aber sein Fehler beim Anwurf bescherte uns den Ausgleich in letzter Sekunde.
Wie wir dann in der Verlängerung unsere Chance ergriffen, war natürlich absolut überragend. Wir haben plötzlich eine Stressfestigkeit bewiesen, die man eigentlich von den Franzosen erwartet hatte. Moral und Energie unserer Jungs kann man gar nicht genug betonen. Und die Leistung eines jungen Mannes im deutschen Trikot nicht hoch genug bewerten: Unser Dika Mem, der junge Renars Uscins im rechten Rückraum, begeistert mich schon das ganze Turnier über. Was er aber gegen Frankreich ablieferte, war noch einmal eine Steigerung.
Wie kaltschnäuzig und nervenstark er mit der beinahe permanenten Wurfverantwortung umging, wie er sich auch durch zwei von Gerard festgehaltene Würfe nicht beeindrucken ließ, dann auch unsere Siebenmeter-Krise beendete und aus allen Lagen traf – das war herausragend. Eine Weltklasse-Vorstellung.
Matchwinner Renars Uscins ist im Flow, ihm gelingt nahezu alles
Der große Dika Mem vom FC Barcelona erzielte zehn Tore – unser junger Renars Uscins übertrumpfte ihn aber mal eben mit 14/3 Treffern. Ich hatte ja bereits darauf hingewiesen: Er ist in einem Flow, er kann nahezu entscheiden und machen, wie und was er will – es kommt fast immer das richtige Resultat dabei heraus. Intuitiv. Ohne viel nachzudenken. Damit hat er sozusagen die Endstufe eines Handballers gezündet. Was hat der Junge für einen Lauf.
Ebenfalls stark – und es geht dabei nicht nur um die Trefferzahl: Juri Knorr als Regisseur. Er hinterlässt einen viel besseren Eindruck bei Olympia als noch bei der EM. Dazu einmal mehr Johannes Golla als Stabilitätsspieler, defensiv wie offensiv. Er wurde am Kreis zunächst gut abgeschirmt von der französischen Abwehr, dennoch war er über 70 Minuten doch wieder ein Faktor. Und: David Späth. Erneut löste er Andreas Wolff im Tor ab und gab mit seinen Paraden der Abwehr mehr Stabilität. Zugleich sorgte er für eine bessere Ausgewogenheit im Torwartduell, das wir zunächst klar zu verlieren schienen, womit vermutlich kein Experte gerechnet hatte.
Spanien-Spiel wird nächster Thriller. Wieder mit Happy End
Nun also Halbfinale. Um Bronze spielen wir in jedem Fall. Mindestens. Gegner am Freitag ist erneut Spanien. In der Vorrunde sind sich beide Teams schon einmal begegnet. Die DHB-Auswahl hat knapp gewonnen. Zweimal in so kurzer Zeit werden sich die Spanier nicht vom selben Gegner besiegen lassen wollen. Es wird sicherlich das nächste intensive, dramatische Duell.
Aber wie bereits erwähnt: Ich rechne damit, dass unsere Jungs nach diesem Thriller gegen Frankreich auf Finalkurs sind und sich davon nur noch schwer bis gar nicht mehr abbringen lassen. Wer sagt denn, dass es nicht noch weitere Jahrhundertspiele geben kann. Sogar während eines olympischen Handballturniers.
Bis zum Wochenende!
Euer Michael Allendorf.
Moment! Eines noch: Au revoir, Nikola Karabatic. Der ‚Goat‘ tritt ab. Das ging im Drama von Lille nahezu unter. Ich möchte ihm an dieser Stelle noch einmal meinen allerhöchsten Respekt für seine unglaubliche Karriere zollen.
Zur Person: Michael Allendorf
Michael Allendorf, Jahrgang 1986, spielte in der Bundesliga für die SG Wallau-Massenheim, die HSG Wetzlar sowie für MT Melsungen. Der Linksaußen kam auf insgesamt 493 Einsätze und erzielte 1.595 Tore. Für die A-Nationalmannschaft spielte er 17mal und warf 26 Tore. Seine größten Erfolge feierte der gebürtige Heppenheimer mit der A-Jugend Wallau-Massenheims (Deutscher Meister 2005) sowie als Junioren-Nationalspieler (Europameister 2006, Vize-Weltmeister 2007). In der letzten Saison seiner aktiven Laufbahn (2021/2022) schnupperte Allendorf bereits Manager-Luft als Assistent der Geschäftsleitung. Danach wechselte er komplett auf die Manager-Seite. Inzwischen verantwortet er als Sport-Vorstand der MT den Bundesligabereich der Nordhessen.Weiterführende Informationen zum olympischen Handballturnier
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