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Zur Fußball-WM Qatar

Bitte keine Scheinheiligkeit!

  • Frank Schneller
Die WM in Katar polarisiert wie noch keine in der Fußballgeschichte zuvor. Dass es im zeitlichen Umfeld der ‚Winterspiele‘ fortwährend Diskurs gibt, ist richtig und wichtig. Hinschauen, nicht wegschauen: Das ist selbstverständlich auch die Haltung unserer Redaktion. Gastautor Frank Schneller, u.a. Redaktionsleiter von olympischesfeuer.de, dem journalistischen Portal der Deutschen Olympischen Gesellschaft (DOG), warnt indes vor Heuchelei, Selbstgerechtigkeit und Scheinheiligkeit. Er meint: Empörung darf nicht fehlgeleitet und aufgesetzt sein. Zudem sei Kritik an Katar und FIFA bei aller Notwendigkeit auch eine Frage des Absenders – und des Timings.
Ein Kommentar von Frank Schneller:

Um es vorwegzunehmen: Bei einem globalen Ereignis, das so absurd anmutet wie die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar, geht es selbstverständlich um mehr als um Sport. Zumal in Zeiten wie diesen. Da muss hingesehen, nicht weggeschaut werden, wenn es um Menschenrechte und -würde geht. Um Korruption. Gravierende Missstände. Gefahren. Jedes Essay, jede Kolumne, jede Enthüllung, jede TV-Doku hat da seine bzw. ihre Berechtigung – oder besser: Notwendigkeit. Sofern sie seriös und handwerklich gut gemacht – also stichhaltig ist.

Doch schon den Zusatz ‚jede Talkrunde zum Thema Katar‘ sei von Wert und Bedeutung, will ich mir verkneifen. Denn die Talkshows im Fernsehen sind oftmals der lebendigste Hinweis darauf, dass im Zuge der Moraldebatten rund um die FIFA und Katar auch Scheinheiligkeit und aufgesetzte Empörung Konjunktur haben. Und genau an diesem Punkt ist Vorsicht geboten. Heuchelei, Doppelmoral und Selbstgerechtigkeit sind nicht sachdienlich, sondern kontraproduktiv.

Wer den Fußballfunktionär und Ex-Bundesliga-Manager Andreas Rettig kennt, weiß um die Verve, mit der er in der Regel seine gesellschaftlichen Themen rund um seinen Lieblingssport verfolgt. Dass Uli Hoeneß ihn aufgrund seiner vehement vorgetragenen Katar-Kritik unlängst „König der Scheinheiligen“ nannte, live auf Sendung, kann noch als Ritterschlag für Rettig interpretiert werden. Folklore der Marke Hoeneß. Wenn jedoch selbst Rettig einräumt – und damit auch kokettiert –, seinen WM-TV-Boykott für die Spiele der deutschen Mannschaft dann doch zu unterbrechen, lässt das den Rückschluss zu, dass es mit der Ernsthaftigkeit und Konsequenz selbst im Kreis der lautesten und prominentesten WM-Kritiker nicht ganz so weit her ist.

Ist der TV-Boykott wirklich ernst gemeint?

Hörte man sich im Vorfeld der ‚Winterspiele‘ von Katar um, durfte man den Eindruck gewinnen: Diese WM schaut in Deutschland so gut wie kein Mensch. Warten wir’s ab. Es wird sich anhand der Einschaltquoten zeigen müssen, wie ernst es den WM-Verweigerern letztlich ist an den zunehmend dunklen, kalten, unwirtlichen November- und Dezembertagen und -Abenden. Davon abgesehen: Warum eigentlich sollen die Fans nun moralisch wertvolle Enthaltsamkeit an den Tag legen, während der Wertekompass in den Chefetagen der entscheidenden Player scheinbar im Wüstensand vergraben wurde? Dazu später mehr.

Es ist schon alles gesagt, aufgeschrieben und gesendet worden – nur noch nicht von jedem. Ein wenig kann diese Formel auch für die WM in Katar herhalten. Dabei ist völlig klar: Dieses Turnier hätte niemals dorthin vergeben werden dürfen. Nun aber ist es zu spät. Da wirken plötzliche Eingebungen auf Seiten des DFB – ob es nun Hansi Flick, Oliver Bierhoff oder andere Funktionsträger waren –, wie Alibis, Doppelmoral. Oder einfach ausgeschrieben: Heuchelei. Schlechtes Gewissen als Feigenblatt? Zu offenkundig mittlerweile.

Timing is everything. Widerstand, Haltung, Konsequenz – dafür war zwölf Jahre Zeit. Kurz vor der Abreise an den Persischen Golf kommen manche Kritik und Zweifel wenig glaubhaft daher. Insofern war Oliver Bierhoffs jüngster Hinweis, die deutsche Mannschaft solle sich jetzt auf Fußball konzentrieren, noch am glaubhaftesten – und übrigens auch am nachvollziehbarsten. Selbst wenn man diese Aussage als Wegducken auslegen kann.

Funktionäre und Verbände in der Pflicht

Keine Frage: Sport ist politisch. Sport kann mitunter Dinge bewegen, an der die Politik scheitert. Sport ist eine Bühne. Auch für wichtige Botschaften. Doch der fortwährende Anspruch an die Aktiven, sich zu äußern, die moralisch und politisch richtigen Messages zu verbreiten auf den Sportbühnen der Welt, Haltung zu demonstrieren, sind anmaßend – und falsch. Der Sport muss Stellung beziehen, natürlich: Absender aber müssen die Verbände und Funktionäre sein, gerne auch Sponsoren. Aber die Aktiven?

Schon nach Ausbruch des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine vergriffen sich viele Meinungsmacher im Ton, als sie von russischen Sportlerinnen und Sportlern öffentlichen Widerstand und Boykott einforderten. Man stelle sich das vor: In der vielleicht weniger beheizten, aber immer noch wohl temperierten Komfortzone hierzulande sitzend, jemanden dazu aufzufordern, seine Karriere zu riskieren, seine Freiheit, vielleicht sogar sein Leben oder das seiner Familie. Um eine Vorbildrolle einzunehmen und Verantwortung zu zeigen, die Sportpolitiker*innen und Verbände, vor allem aber die Mächtigen der Politik jahrelang nicht einzunehmen imstande oder bereit waren. So viel Selbstgerechtigkeit darf nicht sein.

Klare Kante, aber keine Bigotterie: In den Mixedzones der Stadien von Doha müssen nach dem Spiel nicht hunderte Medienvertreter alle Spieler nach ihrer Haltung gegenüber dem antidemokratischen, frauen- und minderheitenfeindlichen Gastgeberland fragen.

Vielmehr hätte sich beispielsweise Karl-Heinz Rummenigge zum gegebenen Zeitpunkt (anders!) positionieren und ein Exempel statuieren müssen, vor Jahren schon. Doch auf den geschenkten Rolex-Uhren war es damals aus seiner Sicht eben nicht fünf vor zwölf. Stattdessen bewies wenige Tage vor der WM Leon Goretzka Courage mit seinen Äußerungen in einer TV-Reportage. Allerdings wurde er eben auch sofort Gegenstand einer aufgeregten Nachberichterstattung – was ihm als Fußballer in Vorbereitung auf eine große sportliche Aufgabe bei allem Sendungsbewusstsein insgeheim nicht gefallen kann.

Die Spieler nicht Alibis herunterbeten lassen

Nein, nochmals: Politiker und (Sport-)Funktionäre standen und stehen in der Pflicht. Viele von ihnen haben versagt, etliche wissen bis heute nicht so recht, wie sie es – siehe die Schlagzeilen rund um die jüngste Doha-Reise von Bundesinnenministerin Nancy Faeser – richtig machen sollen. Sie haben der FIFA den Weg frei gemacht für eine Skandal-WM. Nicht die Fußballer, die aus Sicht vieler Moralapostel jetzt als Botschafter für die gerechte Sache in die Wüste geschickt werden sollen.

Lasst sie also spielen. Und verlangt ihnen auch nicht ab, zu äußern, man wolle und könne vor Ort die Dinge ändern. Nachhaltig verbessern. Das ist – siehe die letzte WM in Russland oder die Olympischen Spiele von Peking – nicht mehr als ein Alibi. Und dieses sollte für Institutionen wie FIFA, UEFA oder IOC reserviert bleiben. So lässt es sich leichter enttarnen. Nimmt die Heuchelei nämlich inflationäre Ausmaße an, konterkariert sie auch die echte, die richtig kanalisierte und unabdingbare Kritik an dieser WM. Umfragen und Erhebungen, wie viel davon die Fans indes überhaupt noch hören, lesen oder sehen wollen, wenn der Ball rollt, erwarte ich durchaus mit ebenso viel Spannung wie etwaige Lehren und Folgen aus Katar seitens der mächtigen Institutionen.

frank schneller











Sportjournalist Frank Schneller

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